leonard88_Ying TangNurPhoto via Getty Images_ukraineEUflag Ying Tang/NurPhoto via Getty Images

Der Ukraine-Krieg und die europäische Identität

BERLIN – Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind noch ein Jahr entfernt, aber die politischen Parteien in der gesamten Europäischen Union sind bereits in den Wahlkampfmodus geschaltet. Während es bei den Wahlen zweifellos ein breites Spektrum an Meinungen zu Klimawandel, Einwanderung und Religion geben wird, gibt es ein Thema, das Politiker aller Couleur zu vereinen scheint: der Krieg in der Ukraine.

Auch mehr als ein Jahr nach dem Einmarsch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Ukraine ziehen alle etablierten europäischen Parteien an einem Strang, wenn es um die Unterstützung der ukrainischen Sache geht. Doch hinter dem Anschein der Einigkeit verbirgt sich ein sich anbahnender Konflikt um die Seele Europas: seine Vorstellung von Freiheit. Zwar wird weithin anerkannt, dass der Kampf der Ukraine ein Kampf für die Demokratie und die europäischen Werte ist, doch wird auch immer deutlicher, dass Europa für einen Sieg einige der Schlüsselelemente seines eigenen Freiheitsprojekts aufgeben müsste. Dies ist das Paradoxon der Freiheit in Europa.

Im letzten halben Jahrhundert haben die europäischen Länder ein Konzept der Freiheit entwickelt, das auf Universalismus, der Ablehnung militärischer Gewalt, wirtschaftlicher Interdependenz, gebündelter Souveränität und der Vorstellung von Europa als einer einzigartigen Einheit beruht, die sich auf eine Reihe gemeinsamer Institutionen stützt. Diese Vision ist es, die die EU von anderen Regionen und sogar von ihren Mitgliedstaaten unterscheidet. Doch der Krieg in der Ukraine hat die Grundprinzipien des Blocks in Frage gestellt – und skeptischen Staatsführern den Weg geebnet, sie zu hinterfragen.

https://prosyn.org/uW3pPVbde