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Kein „Kiewer Hühnchen" mehr für die Ukraine

BERKELEY – Am 1. August 1991, etwas mehr als drei Wochen vor der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine von der Sowjetunion, kam US-Präsident George H.W. Bush nach Kiew, um die Ukrainer davon abzuhalten, dies zu tun. In seiner berüchtigten „Kiewer Hühnchen“-Rede im ukrainischen Parlament belehrte Bush die verblüfften Abgeordneten, dass die Unabhängigkeit ein Rezept für „selbstmörderischen Nationalismus“, „ethnischen Hass“ und „lokalen Despotismus“ sei.

Die Rede war ein kolossaler Fehltritt. Das ukrainische Volk wurde aufgefordert, die jahrhundertelange Unterdrückung durch Entscheidungsträger in Moskau zu ignorieren – und das zu einer Zeit, in der der Holodomor, der von den Sowjets inszenierte „Terrorhunger“, dem 1932-33 Millionen von Ukrainern zum Opfer fielen, vielen noch in lebhafter Erinnerung war. In jenem Dezember erhielt Präsident Bush die Antwort der Ukrainer: Satte 84,2 % der Wahlberechtigten beteiligten sich am Referendum über die Unabhängigkeit, und 92,3 % von ihnen stimmten mit Ja. Doch das Zögern des Westens, den Wunsch der Ukraine nach Souveränität zu respektieren, war ein schlechtes Omen und offenbarte eine Denkweise der US-amerikanischen und europäischen Staats- und Regierungschefs, die den Weg zu Russlands umfassender Invasion im Februar ebnete.

Der Weg zum Krieg begann 1994, als die Ukraine auf Geheiß des Westens das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt an Russland abtrat. Im Gegenzug versprachen Russland, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten, die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine zu gewährleisten. Doch wie sollte diese Zusicherung umgesetzt werden? Im Gegensatz zu Polen und anderen ehemals kommunistischen Ländern erhielt die Ukraine in den 1990er-Jahren keine Chance, der Europäischen Union beizutreten, und 2008 blockierten Frankreich und Deutschland ihre Aufnahme in die NATO.

Als Russland 2014 die Krim annektierte und Teile des Donbass besetzte, schickte US-Präsident Barack Obama Decken und andere nicht-tödliche militärische Ausrüstung in die Ukraine. Deutschland reagierte daraufhin mit dem Bau der Nord Stream 2-Gaspipeline unter Umgehung der Ukraine, obwohl die ukrainische Pipeline über genügend freie Kapazitäten verfügte.

Das alles war eine weitere Portion „Kiewer Hühnchen“: Russland darf nicht provoziert werden, die Beziehungen zum Kreml müssen geschützt werden, und der russische Staat muss stabil bleiben. Immer wieder hielten es westliche Politiker für zweckmäßig, sich den Interessen Russlands zu beugen und der Ukraine ihre Handlungsfähigkeit als souveräner Staat abzusprechen.

Eine Einstellung, die bis heute anhält, trotz der Massengräber und Folterkammern, die die russischen Streitkräfte in Butscha, Irpin und unzähligen anderen Städten und Dörfern im ganzen Land hinterlassen haben. Seit Februar wurden Zehntausende von Ukrainern getötet und Millionen vertrieben, aber westliche Beobachter, von Noam Chomsky bis Henry Kissinger, geben dem Westen die Schuld an der Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, in das Land einzumarschieren, oder haben westliche Staats- und Regierungschefs dazu gedrängt, Putin eine diplomatische Ausweichmöglichkeit zu bieten, indem sie die Ukraine zwingen, Territorium abzugeben.

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Auch die politischen Entscheidungsträger scheinen die Selbstverteidigung der Ukraine als ein größeres Problem zu betrachten als die völkermörderische Aggression Russlands. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz anlässlich des jüngsten Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in den USA wurde die wichtigste Frage zuletzt gestellt. Sollten die USA nicht „der Ukraine alle Fähigkeiten geben, die sie braucht, und alle Gebiete eher früher als später befreien?“ fragte die ukrainische Journalistin Olga Koshelenko. Nein, antwortete Präsident Joe Biden, denn die Bereitstellung von Offensivwaffen könnte den Konflikt eskalieren lassen, und Amerikas europäische Verbündete seien „nicht auf einen Krieg mit Russland aus“. Die Ukraine könnte über eine Patriot-Luftabwehrbatterie verfügen, um Russlands Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur abzuwehren, aber nicht über die Langstreckenraketen, Abrams-Panzer und F-16-Kampfjets, die sie braucht, um die Angriffe an der Quelle zu stoppen.

Dieser Ansatz ist sowohl moralisch falsch als auch strategisch kontraproduktiv. Er wird genau zu der Eskalation führen, die Biden und die europäischen Staats- und Regierungschefs angeblich vermeiden wollen, weil er das zentrale Sicherheitsproblem nicht angeht. Die Ukraine ist nicht das erste Opfer von Russlands aggressivem, atomar bewaffnetem autoritärem Regime – wie Syrer, Georgier und Moldawier bezeugen können – und sie wird auch nicht das letzte sein, es sei denn, Russland wird gezwungen, den Imperialismus aufzugeben, wie es Deutschland und Japan nach ihrer Niederlage im Zweiten Weltkrieg taten. Damals wie heute führten territoriale Zugeständnisse zu mehr Krieg, nicht zu weniger, in Europa und der Welt.

Das Hauptziel ist also glasklar: Russland muss diesen Krieg verlieren und sich entmilitarisieren. Doch trotz der massiven materiellen und militärischen Unterstützung des Westens für die Ukraine hält die verhängnisvolle Logik der Beschwichtigung an, denn viele westliche Politiker fürchten die Folgen einer Niederlage Russlands mehr als die Aussicht auf eine besiegte Ukraine.

Doch die Angst vor einer möglichen Zersplitterung Russlands ist ebenso fehl am Platze wie die Angst vor dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991. Auch die von Chomsky und vielen anderen aufgestellte Behauptung, Russland habe eine berechtigte Angst vor einer weiteren NATO-Erweiterung, sollte niemand ernst nehmen. Tatsächlich ist Putin wohl deshalb einmarschiert, weil er sechs Monate nach dem demütigenden Rückzug der USA aus Afghanistan und zwei Jahre, nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron die NATO als „hirntot“ bezeichnet hatte, der Meinung war, das Bündnis sei zu schwach, um die Ukraine zu unterstützen.

Ginge es in dem Krieg darum, die NATO-Erweiterung zu verhindern, würde das russische Militär auch keine Zivilisten hinrichten und Häuser und Geschäfte plündern. Und der Kreml würde den bevorstehenden Beitritt Schwedens und Finnlands (mit denen Russland eine 1.340 Kilometer lange Grenze teilt) zum Bündnis sicherlich nicht nur achselzuckend zur Kenntnis nehmen.

In diesem Krieg geht es um das Überleben der Ukraine und des ukrainischen Volkes. Um es mit den Worten der in Kiew geborenen israelischen Staatsführerin Golda Meir zu sagen: „Sie sagen, wir müssen tot sein. Und wir sagen, wir wollen lebendig sein. Zwischen Leben und Tod kenne ich keinen Kompromiss“. In ähnlicher Weise wird jeder „Kompromiss“, der Russlands Aggression belohnt, zu weiteren Toten führen. Die Menschen in der Ukraine werden weiter kämpfen, weil sie wissen, was sonst passieren würde. Schließlich ist es bereits in Butscha, Mariupol, Charkiw, Cherson und zahllosen anderen Städten geschehen.

Die Stimme der Ukraine muss gehört werden. Die Bereitstellung der militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen, die das Land für einen Sieg benötigt, ist die beste Investition in die globale Sicherheit, die die Welt tätigen kann. Nach dem Sieg der Ukraine werden sich machthungrige Diktatoren in aller Welt zweimal überlegen, ob sie dem Beispiel Russlands folgen wollen – ein Ergebnis, das zum Beispiel Taiwan sicher begrüßen wird. 

Als das Vereinigte Königreich 1941 allein gegen die Nazis kämpfte, forderte Winston Churchill die USA auf: „Gebt uns die Werkzeuge, und wir werden die Arbeit zu Ende bringen.“ Der ukrainische General Walerij Saluschnyj plädiert in gleicher Weise: „Ich weiß, dass ich diesen Feind besiegen kann. Aber ich brauche Mittel.“ Er sollte sie bekommen. Lasst die Ukrainer ihre Arbeit zu Ende bringen.

Übersetzung: Andreas Hubig

https://prosyn.org/SfSZRJYde