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Zwei Beerdigungen und unsere Freiheit

MOSKAU: Ich habe in letzter Zeit viel an meinen Urgroßvater Nikita Chruschtschow denken müssen. Ursprünglicher Auslöser meiner Erinnerungen war vermutlich der 50. Jahrestag der so genannten „Küchendebatte“, die er mit Richard Nixon führte. Doch die Beerdigung von General Béla Király, der während der ungarischen Revolution von 1956 die Freiheitskämpfer befehligte, in der vergangenen Woche in Budapest und die Beisetzung des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski, dessen Bruch mit dem Stalinismus im selben Jahr viele Intellektuelle (in Polen und anderswo) zur Abkehr vom Kommunismus anregte, in Warschau in dieser Woche haben dazu geführt, dass ich mich erneut mit dem Erbe meines Urgroßvaters auseinandergesetzt habe.

1956 war für Chruschtschow sowohl ein besonders gutes als auch ein besonders schlechtes Jahr. Seine „Geheimrede” dieses Jahres legte das enorme Ausmaß von Stalins Verbrechen offen. Bald war der Gulag praktisch leer; ein politisches Tauwetter setze ein und löste ein Freiheitsraunen aus, das sich nicht mehr eindämmen ließ. Insbesondere in Polen und Ungarn brach eine Untergrundströmung durch, die einen Wandel verlangte.

In Ungarn kam es, wie bekannt, zu einer kurzen und glorreichen Revolution. Der erste Krieg zwischen sozialistischen Staaten erschütterte den Mythos der unverletzlichen „brüderlichen“ Bande zwischen der Sowjetunion und den versklavten Nationen Osteuropas. Aber Chruschtschow sah im Rahmen dieses Tauwetters nie ein Auseinanderbrechen des sowjetischen Imperiums vor. Also marschierte die Rote Armee in Ungarn ein – und zwar im größeren Maßstab als beim Einmarsch der Alliierten in Europa am D-Day des Jahres 1944.

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