Tocquevilles demokratische Lehren

Es erscheint nur angemessen, dass die Welt heute, 200 Jahre nach der Geburt Alexis de Tocquevilles, aufgrund des Kriegs im Irak über das Wesen der Demokratie debattiert. Tocqueville gebührt der Ruhm dafür, dass er die reaktionäre Sehnsucht nach dem Vergangenen verwarf und den Triumph der Demokratie als unser Schicksal betrachtete – und zugleich vor den Gefahren warnte, die die Demokratie für die Freiheit darstellt. Sollten wir seine Befürchtungen noch immer teilen?

Tocqueville betrachtete die Demokratie nicht allein als politische Herrschaftsform, sondern primär als intellektuelles Ordnungssystem, dass die Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft im Allgemeinen formt. Damit verlieh er dem Begriff eine soziologische und psychologische Dimension. Demokratische Systeme, so argumentierte Tocqueville, bestimmen unsere Gedanken, Wünsche und Leidenschaften. Genau wie der Renaissance Man und, im 20. Jahrhundert, der homo sovieticus ist der „demokratische Mensch“ eine Form menschlichen Seins.

Tocqueville war der Ansicht, dass die systemischen Auswirkungen der Demokratie dazu führen können, dass die Bürger sich der Vernunft verweigern. Sie würden dann lediglich vorgeben, Ereignisse und Werte eigenständig zu beurteilen, in Wahrheit jedoch bloß die rohen und simplizistischen Meinungen der Massen übernehmen. Tatsächlich ist, was Tocqueville den Griff „sozialer Macht“ auf die Meinung nannte, in demokratischen Systemen vermutlich am ausgeprägtesten – eine Betrachtungsweise, die die Zunahme der Demagogie und Medienmanipulation der Moderne vorweg nimmt.

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