Das Universum in einem Sandkorn

Als der Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider in der Schweiz eingeschaltet und kurz danach aufgrund eines technischen Problems wieder ausgeschaltet wurde, gab es mannigfaltige Presseberichte darüber. Die Betriebsaufnahme der Beschleunigeranlage war in der Wissenschaftswelt lange erwartet worden; das Ereignis konnte eine der erfolgreichsten Theorien darüber, wie das Universum strukturiert ist, bestätigen oder widerlegen. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, ist für wissenschaftliche Nachrichten selten, was vielleicht an den Befürchtungen lag, dass etwas von himmlischer Gefährlichkeit in unserem Hinterhof zusammengebraut wurde.

Die vorausgehende Berichterstattung wurde von einem Hype über die potenziellen Risiken begleitet. Als der Test dann nicht wie geplant zu verlaufen schien, war es daher nur natürlich, sich zu fragen, ob das Raum-Zeit-Gefüge beschädigt worden war. Einige der anfänglichen Gerüchte darüber, was passieren könnte, waren extrem. In einem wurde spekuliert, dass diese neuen hohen Energien, kombiniert mit der speziellen Methode, mit der die Partikel aufgebrochen werden sollten, uns auslöschen würden. In einem anderen Szenario war die Rede davon, dass das Labor unkontrollierbare, winzige schwarze Löcher erzeugen könnte. Ein weiteres besagte, die Schaffung eines „Strangelets“ würde Kernkraft in ungekannter und fürchterlicher Stärke freisetzen.

Es gibt mögliche Risiken, wenn man an Elementarteilchen herumbastelt, doch war die Schließung in diesem Fall durch ein weltliches Gasleck bedingt. Was den Test für Wissenschaftler viel interessanter macht als für Journalisten, bleibt unverändert und wird weiterhin spannend sein, wenn CERN den Beschleuniger wieder anwirft.

Dabei geht es um Folgendes. Damit eine wissenschaftliche Theorie angenommen wird, muss sie 1) beobachtbare Phänomene erklären; 2) „elegant“ sein, in dem Sinne, dass ihre Wahrheit und Klarheit offensichtlich sind, und 3) vorhersagen, was passiert, wenn man etwas macht, was man noch nie zuvor gemacht hat.

Sinn und Zweck des Large Hadron Collider ist es, eine noch nie da gewesene Situation zu schaffen. Wenn das vorhergesagte Partikel nicht entsteht, wird dadurch eine Reihe theoretischer Abstraktionen in Frage gestellt – und somit zur Ablösung durch radikal andere Alternativen freigegeben.

Im Allgemeinen wird nicht richtig eingeschätzt, wie groß die Auswirkungen eines veränderten wissenschaftlichen Modells auf die reale Welt sein können. Für die meisten Menschen scheinen die Themen, für die sich Physiker begeistern, nicht die geringste Auswirkung auf den Alltag zu haben. Doch ist hier eine tiefere Kette von Abstraktionen – die Werkzeuge, die wir zum Denken verwenden – am Werk, die auf unserer Realitätswahrnehmung beruht.

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Denken wir zum Beispiel einmal daran, wie anders die Welt war, bevor das Konzept „null“ entdeckt wurde. Die Null ist in der Buchhaltung unerlässlich, und somit im gesamten modernen Handel. Und das ganz unabhängig davon, dass wir die Vorstellung von „nichts“ als selbstverständlich ansehen. Das Konzept existierte im Westen einfach nicht, bis die katholische Kirche ihr Verbot dieser Vorstellung im zwölften Jahrhundert aufhob, 1400 Jahre nachdem die Null in der arabischen Welt erfunden worden war.

Ganz ähnlich: Was wäre, wenn Theorien über Keime nicht bewiesen worden wären? Wir würden ganz anders über die Informationsübertragung oder Nachrichten denken. Oder das Konzept des Kraftfelds, welches die Vorstellung des Einflusses ermöglicht? Freuds ursprüngliches Modell der Seele, dessen Nachfolger seitdem unser Denken über uns selbst geformt haben, war von Einsteins Relativitätstheorie inspiriert. Überzeugende wissenschaftliche Abstraktionen schleichen sich nach und nach in unsere Wahrnehmung von Kunst, in die Bildung unserer Gesetze und die Formulierung unserer Ethik ein.

Die Theorie, um die es in dem eifrig erwarteten CERN-Experiment ging, steht im Mittelpunkt einer Kontroverse darüber, welche Abstraktion im Universum grundlegender zu sein scheint. Die eine basiert auf Zahlen, die andere auf Formen. Die erste behauptet, das Universum sei im Grunde probabilistisch und im Großen und Ganzen zufällig, jedoch mit einer gewissen Ordnung in seiner Zufälligkeit. Die andere postuliert, das Universum sei von Natur aus geometrisch und werde von geometrischen Eigenschaften regiert, z. B. Symmetrie. Wenn bei dem Experiment das vorhergesagte Teilchen gefunden wird, lässt dies die Debatte in Richtung Form kippen.

Das könnte langfristig Folgendes bedeuten. Als Sie soeben das Wort „Symmetrie“ gelesen haben, dachten Sie wahrscheinlich an zwei ausgeglichene Hälften, oder eine Spiegelung. Wir weiten diese simple Vorstellung auf unser gesamtes Denken über die Welt aus: Mann und Frau, Chef und Angestellter, Liebe und Hass, links und rechts. Sie steht hinter unseren politischen und religiösen Vorstellungen und sogar hinter dem Prinzip der Wahrheit, auf dem unser Rechtssystem beruht.

Doch was wäre, wenn wir es naturgegeben mit Dreiersymmetrien zu tun hätten? Was wäre, wenn durch eine Teilchenkollision bewiesen würde, dass für echtes Gleichgewicht drei Seiten erforderlich sind anstatt zwei?

Die Tests im Hadron Collider könnten diesen Wandel auslösen, genauso durchschlagend wie eine Explosion. Vielleicht wäre es aber auch weniger dramatisch, wie eine Idee, die im Kopf eines Angestellten, der aus dem Fenster eines Patentamts blickt, langsam Gestalt annimmt. Eine andere Wahrnehmung der Realität hat die Macht, uns zu verändern – unsere Denkweise zu verändern – und sie könnte von überall kommen.

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