Der IT Boom war nur in Europa ein Mythos

Amerikas Wirtschaft verharrt noch am Rand einer doppelt tiefen Rezession. Der Dollar ist schwach und die Wall Street will sich nicht erholen. Braut sich ein apokalyptisches Szenarium zusammen? Wohl kaum! Die US-Wirtschaft, daran sollte man denken, schloss das Jahr 2002 mit einem Jahreswachstum von 2.5% ab - und lag damit über dem langfristigen Trend, den viele Fachleute auch die Europäischen Zentralen Bank für das Euro-Gebiet für möglich halten.

Der Punkt ist, dass die USA trotz der Exzesse von 1999 - 2000, trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der letzten beiden Jahre und der Neigung, den Technologieboom der 1990er Jahre bloß für einen Reklamerummel zu halten, während dieses Jahrzehntes tief greifende strukturelle Veränderungen durchgemacht haben. Ihr Produktivitäts-Wachstum hat sich fast verdoppelt, es wuchs von etwas über 1 % im Zeitraum 1990-95 auf über 2 % in den Jahren 1995-2000. Zudem sehen wir keine Anzeichen für eine Verlangsamung: In den Jahren 2001 - 02 ergab sich ein Produktivitäts-Wachstum von im Durchschnitt fast 3 %.

Die Informationstechnologie (IT) verbuchte nahezu 80 % des Produktivitätszuwachses für sich. Auch ist der Produktivitätszuwachs keine vorübergehende, sondern eine nachhaltige Erscheinung, weil ein Großteil der jüngsten technologischen Fortschritte, die wir in den USA erlebt haben, noch darauf wartet, ausgeschöpft zu werden. Im Hinblick auf die Zukunft ist das von entscheidender Bedeutung, weil das langfristige wirtschaftliche Wohlergehen eines jeden Landes von einem stetigen Produktivitätswachstum abhängt.

Da die neuen Informationstechnologien in allen entwickelten Ländern leicht zugänglich sind, sollte man meinen, dass die Produktivität überall und nicht nur in den USA gestiegen ist. Doch dem ist nicht so. Während die Produktivität in den USA zunahm, hat sie in den größten Volkswirtschaften der Europäischen Union abgenommen. Wie lässt sich dieses Auseinandertriften erklären? Warum haben die großen EU-Wirtschaften nicht von der IT profitiert, obwohl diese den "alten" Kontinent ebenso durchdrungen hat?

Ein nicht notwendigerweise beunruhigender Grund hat etwas mit den Reformen des Arbeitsmarktes zu tun. Gegen Ende der 1990er Jahre förderten die großen EU-Länder die Beschäftigung weniger qualifizierter Arbeiter durch Zeitarbeitsverträge. Das führte zum Teil dazu, dass die Produktion in Europa an vielen Stellen arbeitsintensiver geworden ist. Dadurch ist das Verhältnis von Kapital zu Arbeit deutlich gesunken. Das hatte sich zweifellos negative auf das Produktivitätswachstum ausgewirkt.

Ein zweiter Grund rührt daher, dass Investitionen in IT in Europa später einsetzten als in den USA. Auch wenn im Jahr 2001 der Anteil der IT am Brutto Inlandsprodukt BIP in der EU etwa der gleiche war wie in den USA, so war das ebenso die Folge der jüngsten, konzentrierten Aufbrüche in Europa, wie der gewaltigen Investitionseinbrüche in den USA, nachdem dort die dot.com-Blase geplatzt war. Weil aber der Zeitraum gewaltiger IT-Ausgaben in Europa in den zyklischen Abschwung der Weltwirtschaft fiel, dürfte es noch zu früh sein, um ihre vorteilhaften Auswirkungen festzustellen.

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Doch gibt es einen dritten, eher beunruhigenden Unterschied zwischen Europa und den USA. Zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der 1990er Jahre brach der Grenznutzen des jährlichen Produktivitäts-Wachstums (der Anteil, der die Effizienz misst, mit der die Produktionsfaktoren zum Einsatz kommen) in Italien, Spanien und dem UK um über 1 % ein. In Frankreich und Deutschland blieb er gleich, während er in den USA um 0.66 % anstieg.

Einige Daten lassen erkennen, dass Europa besonders in den Sektoren enttäuschte, in denen IT intensiv zum Einsatz kommt. Bei Großhandel und beim Einzelhandelvertrieb, aber auch im Bereich Finanzdienstleistung und in anderen fortgeschrittenen Dienstleistungsbereichen blieb die Produktivität in Europa im Großen und Ganzen konstant, während sie in den USA im Jahresdurchschnitt um 4-5 % zunahm. Zudem sind die hi-tech-Sektoren, die IT herstellen und die typischerweise schneller wachsen als der Rest der Wirtschaft, in Europa viel kleiner und weniger dynamisch als in den USA.

Mit anderen Worten, Europa war nicht in der Lage die neuen Technologien für produktive Zwecke auszuschöpfen, und zwar weder als Benutzer noch als Hersteller von IT. Hinsichtlich der IT- Verwendung hat Europa viel Geld für Investitionen in IT ausgegeben, aber eben oft nicht zu produktiven Zwecken. Zum Beispiel sind Mobiltelefone in Europa weit verbreitet; das verbessert möglicherweise die Qualität der Freizeit, trägt aber wenig dazu bei, die Arbeitsproduktivität anzuheben.

Hinsichtlich der Herstellung von IT fallen die großen EU-Länder weit hinter die USA zurück. Die Wirtschaftssektoren, die neue Technologien herstellen, sind in Europa kleiner und ihr Exportanteil am Weltmarkt ist geschrumpft. Es ist kein Zufall, dass die einzigen europäischen Länder mit hohem Produktivitätswachstum in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Irland, Finnland und Schweden waren. Bei ihnen nimmt die Herstellung von IT einen großen Anteil am Gesamtausstoß und an der Beschäftigung ein.

Aber warum fällt es Europa so schwer, IT für produktive Zwecke zu nutzen? Vielleicht hat das etwas mit anderen Unterschieden zwischen Europa und den USA zu tun. Viele Einrichtungen der großen Volkswirtschaften in der EU beschneiden individuelle Initiativen, behindern die Beweglichkeit der Ressourcen und erschweren es, die effizientesten und dynamischsten Unternehmen auszusuchen.

Es wäre nicht überraschend, wenn diese Institutionen auch den wirksamen Einsatz der neuen technologischen Fortschritte am Arbeitsplatz verzögern würden. Wenn diese Sichtweise richtig ist, dann dürfte wohl der Gegensatz zwischen der Dynamik in den USA und bei den kleineren Ländern Nordeuropas auf der einen und der Stagnation der großen EU-Länder auf der anderen Seite eher noch zunehmen.

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