Die Identitätsklinik

„Du sollst der werden, der du bist," schrieb einst Friedrich Nietzsche. Ein Jahrhundert später nehmen sich Millionen von Menschen Nietzsches Rat zu Herzen. Statt sich allerdings der Philosophie zuzuwenden, entscheiden sie sich für den Einsatz von Arzneimitteln und Skalpell.

„Ich fühle mich wieder wie früher, seit ich Seroxat nehme," sagt die Frau in der Fernsehwerbung für das Antidepressivum; genauso ergeht es, so hört man, den Anwendern von Prozac, Ritalin, Botox, Propecia, Xenical, anabolen Steroiden, Schönheitschirurgie, Hormonersatztherapie und Geschlechtsumwandlungen. Selbst dort, wo sich Menschen dramatischen Selbsttransformationen unterziehen, ihre Persönlichkeit durch psychoaktive Drogen und ihre Körper durch chirurgische Eingriffe verändern, geht es ihnen nach eigener Beschreibung bei diesen Transformationen darum, zu werden, „was sie wirklich sind".

„Nur durch Verwendung von Steroiden," schreibt der Bodybuilder Samuel Fussell, „konnte ich von außen so aussehen, wie ich mich in meinem Innersten gefühlt habe." „Durch die Geschlechtsumwandlung," schreibt Jan Morris, „habe ich endlich meine Identität verwirklicht." Wenn Nietzsche heute lebte, würde er womöglich für Pfizer Werbekampagnen für Antidepressiva entwickeln.

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