Das Hamas-Erdbeben

Nach dem Triumph der Hamas über die vernichtend geschlagene Fatah bei den palästinensischen Parlamentswahlen von voriger Woche, sind die Palästinenser an einem Scheideweg angelangt. Nun ist in Palästina eine Partei an der Macht, die sich früher aus der nationalen Politik heraushielt und die auch die Verhandlungen der Fatah mit Israel ablehnt.

Die Hamas gewann 76 der 132 Sitze im palästinensischen Parlament und kann überdies auf die Unterstützung von 4 unabhängigen Abgeordneten zählen. Insgesamt verfügt sie also über 60 % der Parlamentssitze. Gewonnen hat sie in fast allen Bezirken des Westjordanlandes und Gaza. Die Hamas betrat die politische Bühne erst vor Kurzem, aber ihrem deutlichen Sieg bei den Parlamentswahlen waren große Wahlerfolge auf lokaler Ebene vorangegangen. Die politische Stunde der Hamas ist also gekommen.

Nach palästinensischem Recht muss Präsident Mahmud Abbas nun die Hamas mit der Bildung einer Regierung beauftragen. Die Fatah-Funktionäre scheinen aber nicht gewillt zu sein, einer von Hamas angeführten Regierung beizutreten. Obwohl die Hamas verkündete, eine derartige Koalition anzustreben, hat die schmachvolle Niederlage die Glaubwürdigkeit der Fatah als Regierungspartner untergraben.

Bis jetzt haben hochrangige Vertreter der Fatah bekundet, dass man sich als loyale Opposition im Parlament betätigen werde und die Regierungsverantwortung der Hamas überlassen wolle. Nun gelte es, sich auf den Wiederaufbau und die Erneuerung der Fatah zu konzentrieren.

Die Hamas ist sich des Schocks, den ihr Wahlsieg auslöste, sehr wohl bewusst. Im Falle einer Weigerung der Fatah, einer Koalition beizutreten, könnte die Hamas eine Regierung aus unabhängigen Vertretern und Technokraten bilden. Es ist unwahrscheinlich, dass sich eine Hamas-Regierung aus Hardlinern zusammensetzt. Aufgrund der politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Lebensumstände der Palästinenser bedarf es einer Regierung, die sich darauf konzentriert, Probleme zu lösen und nicht, ihre ideologische Reinheit zu bewahren.

Die vordringlichste Herausforderung für die neue Regierung ist die weit verbreitete Gesetzlosigkeit und Anarchie in der gesamten palästinensischen Gesellschaft. Mord, Entführung und Erpressung haben neue Rekordhöhen erreicht. Bewaffnete Einzelpersonen greifen zum Mittel der Entführung, um einen Job zu bekommen, Familienmitglieder aus dem Gefängnis zu befreien und um Rache zu üben.

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In vielen Fällen gehören die in diese Verbrechen verwickelten Personen lokalen Banden oder sogar den Milizen großer Clans an. In der Opposition weigerte sich die Hamas hartnäckig, illegale Waffen einzuziehen. Jetzt bekommt sie es mit einer bis zu den Zähnen bewaffneten palästinensischen Gesellschaft zu tun, in der die Armutsrate bis zu 70 % und die Arbeitslosenrate 35 % beträgt.

Nachdem die Hamas von der dramatischen Abfuhr für die Fatah profitiert hat, wird sie nun daran gemessen, wie sie mit ihrer neu errungen Autorität umgeht. Zum ersten Mal tickt die politische Uhr für die Hamas. Deren hochrangige Vertreter sind sich der Herausforderung sehr wohl bewusst und haben daher eine Generalreform aller öffentlichen Dienstleisten und der Verwaltung in Aussicht gestellt. Der Erfolg der Hamas wird in den nächsten Monaten vor allem an der Lösung dieser Probleme gemessen werden.

Wird es der Hamas gelingen, Korruption und Unfähigkeit zu eliminieren und Dienstleistungen auf gerechter und effizienter Basis zur Verfügung zu stellen? Wie wird sich ihr Wahlsieg auf die Auslandshilfe für Palästina auswirken, die den Großteil des nationalen Budgets ausmacht?

Die ersten internationalen Reaktionen auf den Wahlsieg der Hamas waren heftig. Die Bush-Administration hat erklärt, nicht mit einer Hamas-Regierung zusammenarbeiten zu wollen, weil die sich Hamas noch immer der Zerstörung Israels verpflichtet fühlt. Das ist tatsächlich die Sprache der Hamas-Charta aus dem Jahr 1988.

Interessanterweise allerdings verfolgte die Wahlplattform der Hamas zwei unterschiedliche Ansätze im Hinblick auf einen palästinensischen Staat. Einerseits stimmte die Hamas zum ersten Mal der Gründung eines palästinensischen Staates im Westjordanland und Gaza mit einer Hauptstadt Ostjerusalem zu. Auf der anderen Seite wiederholt die Plattform die Weigerung der Hamas auch nur einen Zentimeter des historischen Palästina aufzugeben.

Momentan ist es unmöglich abzusehen, ob aus der Hamas eine moderate Organisation werden kann. Klar ist allerdings, dass sich die Hamas nun der öffentlichen Meinung stellen und als Regierungspartei mit den internationalen Reaktionen auf ihren Sieg fertig werden muss.

Unmittelbar nach der Wahl meinte der hochrangige Hamas-Vertreter Mahmoud al-Zahar, dass die Hamas sich an den seit letzten Februar geltenden Waffenstillstand mit Israel halten werde, vorausgesetzt Israel würde das auch tun. Damit signalisiert die Hamas möglicherweise, Israel nicht provozieren zu wollen. Vielleicht wird die Hamas auch durch ihre Regierungsverantwortung in laufende Gespräche mit den USA und der internationalen Gemeinschaft gedrängt.

Trotz des Wahlergebnisses und auch ohne Regierungsbeteiligung der Fatah wird Abbas auf jeden Fall die Verhandlungen mit Israel fortführen. Er hat die rasche Wiederaufnahme von Friedensgesprächen gefordert, obwohl sich Israel ebenso wie die USA weigert, mit der Hamas zusammenzuarbeiten.

Die Palästinenser haben sich in unbekannte Gewässer vorgewagt. Scharenweise stürmten sie zu den Urnen, um bei einer Wahl ihre Stimme abzugeben, die der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter als ehrlich, fair und gewaltlos bezeichnete. Sie wählten eine Partei, die sich nach einem Jahrzehnt der Gewalt und Gesetzlosigkeit für „Reform und Wandel“ aussprach. Und die Palästinenser teilten die Sichtweise der Hamas, wonach die auf Grundlage der Verträge von Oslo stattfindenden Verhandlungen nicht dazu angetan sind, den Palästinensern zur Durchsetzung ihrer Rechte und politischen Ambitionen zu verhelfen.

Nach dem Wahlsieg wird die Hamas auf palästinensischer Seite die Verantwortung im israelisch-palästinensischen Konflikt übernehmen. Die Zukunft der Palästinenser steht auf dem Spiel - von der Israels und des Nahen Ostens ganz zu schweigen – und niemand kann sagen, ob die Hamas dieser Aufgabe gewachsen sein wird.

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