Schlechte Karten im Handelspoker für Europa?

PARIS – Der Beginn der Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten – offiziell Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) – markiert einen bedeutenden Wendepunkt für die EU und den Welthandel. Überdies untermauert dieses Abkommen auch die in den letzten Jahren erkennbare Abkehr beider Seiten von der multilateralen Handelspolitik. Für Amerika ist das möglicherweise der  richtige Schritt, doch für Europa könnte diese Entwicklung ernsthafte Schwierigkeiten mit sich bringen.

Trotz des Aufstiegs von Schwellenmärkten wie China gelang es der EU, wo nur etwa 7 Prozent der Weltbevölkerung leben, in den vergangenen 50 Jahren eine außergewöhnlich starke Handelsposition aufrecht zu erhalten. Während der jeweilige Anteil der USA und Japan an den globalen Exporten rückläufig war, blieb der Anteil der EU bei etwa 20 Prozent stabil. 

Tatsächlich steht die Stärke der EU im Bereich des Handels in krassem Widerspruch zur Wahrnehmung eines geschwächten Europa. Von größter Bedeutung ist, dass Europa diese Position nur aufgrund massiver Investitionen in ein multilaterales System erreichen konnte – zunächst durch das Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen und später durch die Welthandelsorganisation.

Und obwohl die EU dem multilateralen Handelssystem viel verdankt, hat auch sie sich seit 2006 dem Bilateralismus zugewandt, wobei die Freihandelsabkommen mit Lateinamerika und Südkorea zu den größten Erfolgen zählen. Ein Abkommen mit Kanada ist mittlerweile in Reichweite (während die bilateralen Verhandlungen mit Indien offenbar in der Sackgasse stecken, weil die Inder wohl nicht glauben, dass ihnen ein Freihandelsabkommen viel helfen würde).  

Offiziell betrachtet die EU einen bilateralen Ansatz mit gleichzeitiger Rückkehr zum Multilateralismus als durchaus miteinander vereinbar. Doch die Fakten widersprechen dieser Ansicht.

Zunächst ist klar, dass es angesichts des schwindenden Multilateralismus zu einer Ausweitung des Bilateralismus kommt. Seit 2008, als die  Doha-Runde der weltweiten Handelsgespräche scheiterte, erwiesen sich die Europäer als unfähig, die USA, China und Indien an den multilateralen Verhandlungstisch zurückzubringen. Noch bedeutsamer: sie haben ihre entsprechenden Bemühungen offenbar aufgegeben. Dies findet seinen Ausdruck in dem Widerwillen der EU, Druck auf die Schwellenländer auszuüben, Parteien des multilateralen Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen der WTO zu werden. Es scheint, als hätte man sich damit abgefunden, dass diese Angelegenheit nur bilateral gelöst werden kann.   

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Seit 2008 hat man den Multilateralismus auch in der US-Handelspolitik bewusst aufgegeben, um China mittels einer auf zwei Säulen beruhenden Strategie in Schach zu halten: durch den Abschluss der geplanten Transpazifischen Partnerschaft (TPP) und der TTIP. Der Grund dafür  ist einfach: die USA verfügen nicht mehr über die Macht, die Regeln im globalen Handelssystem festzusetzen, betrachten sich selbst jedoch als stark genug, um diese Regeln zu umgehen.

In diesem Bereich verfolgt die EU auch teilweise das strategische Ziel Amerikas, weil auch sie  hinsichtlich Marktzugang, Einhaltung von Rechten des geistigen Eigentums, Zugang zu öffentlichen Aufträgen und Subventionen für Staatsbetriebe Vorbehalte gegen die Schwellenländer hegt. Europa muss jedoch eine Ausrichtung auf diesen neuen und eng gefassten Schwerpunkt des US-Handels aus mehreren Gründen vermeiden.

Erstens verfügt Europa über keine Asien-Strategie oder ein Pendant zur TPP. Ein Abkommen zwischen der EU und Japan wäre für Europa freilich sehr günstig und würde Amerikas Vorteile in Asien verringern. Doch wenn die USA die TPP beschließen, bevor die Europäer mit Japan ein Abkommen erzielen, würde das die Verhandlungsposition der japanischen Regierung gegenüber der EU automatisch stärken. In dieser Hinsicht wäre ein Abkommen mit Japan sowohl für die USA als auch für Europa das zentrale Maß für Erfolg oder Misserfolg des Bilateralismus.  

Zweitens – und von grundlegenderer Bedeutung – sind die USA nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politisch-militärische Macht. Aus diesem Grund wird das Kalkül ihrer Verhandlungspartner im Bereich des Handels immer von strategischen Überlegungen geprägt sein, die im Umgang mit Europa keine Rolle spielen.

Relevant ist dies vor allem im Hinblick auf China. Es zeigt sich sehr deutlich, dass die USA durch die Anhebung weltweiter Handelsnormen China in Schach halten wollen. Wenn diese beiden Länder jedoch aufgrund weiter gefasster geopolitischer Überlegungen zu einem Abkommen gelangen, könnte Europa das Nachsehen haben.

Etwas Ähnliches geschah während der Klimakonferenz in Kopenhagen im Jahr 2009, als die USA und China beschlossen, sich einem umfassenden globalen Abkommen zu verschließen und damit Europa düpierten. Desgleichen haben die USA kein wirkliches Interesse, die multilateralen Handelsgespräche wieder aufleben zu lassen, weil Bilateralismus ein wesentlich effektiveres Instrument ist, den Schwellenländern Zugeständnisse abzuringen.

Europa hat weder die gleichen geopolitischen Interessen wie die USA, noch verfügt es über die gleichen Mittel. Daraus ergibt sich, dass Europa ein größeres wirtschaftliches Interesse an der Wiederbelebung des multilateralen Handels hat. Tatsächlich wird die Zunahme bilateraler Abkommen mit ihren eigenen Mechanismen zur Beilegung von Differenzen unweigerlich das Streitbeilegungsverfahren der WTO schwächen und den Multilateralismus somit weiter untergraben.

Die Notwendigkeit, den Multilateralismus zu beleben ist umso wichtiger, als die  Verhandlungen zwischen der EU und den USA wahrscheinlich schwierig verlaufen und lange dauern werden. Dies vor allem aufgrund des Widerstandes europäischer und amerikanischer Regulierungsbehörden. Die europäischen Regulierungsbehörden haben bereits beschlossen, die Zulassungsbedingungen für genetisch veränderte Organismen zu verschärfen, so als ob man den US-Verhandlern zeigen wollte, dass man lang gehegte Positionen nicht so einfach aufgeben wird.

Nun, da die Verhandlungen über die TTIP offiziell begonnen haben, muss Europa versuchen, die bestmöglichen Konditionen herauszuholen. In allererster Linie muss die EU akzeptieren, dass der Welthandel ein gnadenloses politisches Spiel ist, das nach einer alles beherrschenden Regel funktioniert: man halte sich jederzeit alle Optionen offen.  

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/HQJU7z2de