Das Ende der Russland-China-Debatte

Vor zehn Jahren war es Mode unter Intellektuellen, den Reformprozess in China und Russland zu vergleichen. Wäre es wünschenswert, nach Art der Chinesen zunächst bei der Wirtschaft anzusetzen – zu versuchen, schnell reich zu werden, aber dabei ja keine politische Unruhe zu stiften? Oder wäre es besser, mit der Politik zu beginnen – die Freiheit zurückzugewinnen, in der Hoffnung, dass der Wohlstand später käme –, wie es der russische Weg unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin zu sein schien?

Inzwischen hat eine neue Vergleichsdiskussion begonnen. Diesmal geht es nicht mehr um die Gegenüberstellung zwischen Russland und China, da Russland schon lange keinen Vergleichsmaßstab mehr darstellt. Der neue Vergleich betrifft stattdessen die beiden neuen wirtschaftlichen, demografischen und politischen Giganten Asiens, China und Indien. Chinas jährliches Wirtschaftswachstum während der vergangenen 26 Jahre liegt bei etwa 8-9%; Indien hat für das letzte Jahrzehnt ähnliche Wachstumsraten aufzuweisen.

In der „flachen Welt“ der Globalisierung – um Thomas Friedmans kraftvolle Metapher aufzugreifen – hat Russland, so scheint es, keinen Platz mehr. Natürlich ist Russland noch immer die zweitgrößte Atommacht der Welt, und als einer der weltweit bedeutendsten Exporteure von Öl und Gas profitiert es von den derzeitigen hohen Energiepreisen. Aber Russlands Bevölkerung verschwindet vor unseren Augen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei Männern bei nur 57 Jahren, und die Bevölkerung des Landes schrumpft jedes Jahr um fast 800.000 Menschen. Tatsächlich ist Russland eher ein fragiler, Öl produzierender Staat als eine sich modernisierende wirtschaftliche Großmacht.

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