Das Ende der zweiten Revolution Russlands

MOSKAU: Früher oder später enden alle Revolutionen. Die Menschen sind die Kriminalität und die herrschende Unsicherheit bald so leid, dass das Einsetzen von “Recht und Ordnung” zu ihrem primären Ziel wird. An diesem Punkt erliegt eine Gesellschaft entweder den Verlockungen der Diktatur oder sie schmiedet einen neuen sozialen Pakt, der sich mit den Schlüsselergebnissen der Revolution vereinbaren lässt.

In Russland hat die Revolution der 90er Jahre offensichtlich die Phase der Stabilisierung erreicht: Es herrscht eine breite Akzeptanz des Marktes und des Privateigentums; die Zeiten einer nicht durchsetzungsfähigen Staatsautorität und einer schwachen Regierung machen einer umfangreicheren Macht des Staates Platz, räumt doch die erschöpfte Gesellschaft den gegenwärtigen Herrschern einen größeren Spielraum zum politischen Manövrieren ein.

Nun besteht also eine wirkliche Gelegenheit zum Schaffen einer neuen sozialen bzw. politischen Übereinkunft. Nichtsdestotrotz bleibt eine kritische Frage bestehen: Wie werden die russischen Herrscher ihre erhöhte Macht und ihre umfangreichere Freiheit zum Manövrieren nutzen? Im Augenblick befinden sie sich in einer Situation, in der sie eine konstruktive Politik durchführen und sich mit Problemen auseinandersetzen können, die bereits zu lange ignoriert worden sind. Doch es besteht auch die Gefahr, dass diese gestärkten Kräfte ein undemokratisches Regime formen; dann würde auf die Stabilisierung Autoritarismus folgen.

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