Amerikas Scheuklappen

SINGAPUR – Es ist an der Zeit, das Undenkbare zu denken: das Zeitalter der amerikanischen Vorherrschaft auf internationaler Ebene könnte nun wohl zu Ende gehen. Angesichts des Herannahens dieses Moments lautet die wichtigste Frage, wie gut die Vereinigten Staaten darauf vorbereitet sind.

Asiens Aufstieg in den letzten Jahrzehnten ist mehr als nur eine Geschichte des raschen Wirtschaftswachstums. Vielmehr handelt es sich um die Geschichte einer Region, die eine Renaissance erlebt, im Zuge derer sich die Menschen wieder öffnen und verbesserten Perspektiven entgegensehen. Asiens Vormarsch in Richtung seiner früheren zentralen Rolle in der Weltwirtschaft verfügt über eine derartige Dynamik, dass er praktisch unaufhaltsam erscheint. Obwohl der Übergang vielleicht nicht immer reibungslos verläuft, bestehen keine Zweifel mehr, dass sich am Horizont ein asiatisches Jahrhundert abzeichnet und dass sich die Chemie der Welt grundlegend verändern wird.

Führende Persönlichkeiten der Welt – ob politische Entscheidungsträger oder Intellektuelle – tragen die Verantwortung, ihre jeweiligen Gesellschaften auf diese bevorstehenden globalen Veränderungen vorzubereiten. Doch zu viele amerikanische Führungspersönlichkeiten drücken sich vor dieser Verantwortung.

Im Rahmen des letztjährigen Weltwirtschaftsforums in Davos nahmen zwei US-Senatoren, ein Abgeordneter des Repräsentantenhauses und ein stellvertretender nationaler Sicherheitsberater an einem Forum über die Zukunft der Macht Amerikas teil (ich war der Vorsitzende). Als man die erwähnten Teilnehmer fragte, wie sie die Zukunft der amerikanischen Macht beurteilen, erklärten sie erwartungsgemäß, dass die USA das mächtigste Land der Welt bleiben würden. Als man sie jedoch mit der Frage konfrontierte, ob Amerika vorbereitet sei, die zweitgrößte Volkswirtschaft zu werden, gaben sie sich zugeknöpft.

Ihre Reaktion war verständlich: alleine die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass die USA „Nummer zwei“ werden könnten, entspricht für einen amerikanischen Politiker einem karrieretechnischen Selbstmord. Gewählte Vertreter müssen sich – in unterschiedlichem Ausmaß – überall anpassen, um die Erwartungen jener zu erfüllen, denen sie ihr Amt zu verdanken haben.

Andererseits haben Intellektuelle aber eine spezielle Verpflichtung, das Undenkbare zu denken und das Unaussprechliche auszusprechen. Man erwartet von ihnen, alle Möglichkeiten, auch unangenehme, in Betracht zu ziehen und die Bevölkerung auf künftige Entwicklungen vorzubereiten. Die ehrliche Diskussion unbeliebter Ideen ist ein Hauptmerkmal einer offenen Gesellschaft.

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Doch in den USA kommen viele Intellektuelle dieser Verpflichtung nicht nach. Richard Haass, der Vorsitzende des Council on Foreign Relations, behauptete jüngst, dass sich die USA „bereits im zweiten Jahrzehnt eines weiteren amerikanischen Jahrhunderts befinden könnten.” Auch Clyde Prestowitz, Präsident des Economic Strategy Institute, meint, dass sich „dieses Jahrhundert letztendlich sehr wohl als ein weiteres amerikanisches Jahrhundert erweisen könnte“.

Selbstverständlich ist es möglich, dass sich diese Prognosen sehr wohl als korrekt erweisen und wenn dem so ist, wird der Rest der Welt davon profitieren. Eine starke und dynamische US-Wirtschaft, neu belebt durch billiges Schiefergas und beschleunigte Innovation, würde die gesamte Weltwirtschaft erneuern. Doch dafür sind die Amerikaner ohnehin mehr als gerüstet  und somit sind auch keine Vorbereitungen mehr nötig.

Wenn sich jedoch der globale Schwerpunkt nach Asien verlagert, werden die Amerikaner bedauerlich unvorbereitet dastehen. Viele Amerikaner sind schockierend ahnungslos hinsichtlich der Fortschritte, die der Rest der Welt, vor allem Asien, gemacht hat.

Den Amerikanern muss eine simple mathematische Wahrheit vermittelt werden. Mit 3 Prozent der Weltbevölkerung können die USA nicht mehr den Rest der Welt beherrschen, denn die Asiaten, die 60 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, schneiden auch nicht mehr unterdurchschnittlich ab. Doch der Glaube, wonach Amerika das einzig mächtige Land, das einzige Leuchtfeuer in einer dunklen und instabilen Welt sei, prägt auch weiterhin die Weltsicht vieler Amerikaner. Das Versagen der amerikanischen Intellektuellen, diese Annahmen in Frage zu stellen – und der amerikanischen Bevölkerung damit zu helfen, selbstgefällige, auf Unwissenheit beruhende Haltungen abzulegen – festigt eine Kultur des Einlullens der Öffentlichkeit.

Doch obwohl die Amerikaner dazu neigen, nur gute Nachrichten hören zu wollen, ist der Aufstieg Asiens in Wahrheit keine schlechte Nachricht. Die USA sollten erkennen, dass es den asiatischen Ländern nicht darum geht, den Westen zu beherrschen, sondern ihm nachzueifern. Man trachtet danach, eine starke und dynamische Mittelschicht aufzubauen und jene Art von Frieden, Stabilität und Wohlstand zu erreichen, die der Westen schon lange genießt.

Die derzeit in Asien stattfindende tiefe soziale und intellektuelle Transformation verspricht, den Kontinent von wirtschaftlicher Macht zu globaler Führerschaft zu befördern. China, eine in  vielerlei Hinsicht geschlossene Gesellschaft, ist durchaus weltoffen, wohingegen die USA zwar eine offene Gesellschaft darstellen, aber in ihren Haltungen verschlossen sind. Angesichts der sprunghaften Ausweitung der asiatischen Mittelschicht von etwa 500 Millionen Menschen heute auf 1,75 Milliarden bis 2020, werden die USA die neuen Realitäten in der Weltwirtschaft nicht mehr sehr lange ausblenden können.

Die Welt steht vor einer der dramatischsten Machtverschiebungen in der Menschheitsgeschichte. Um auf diesen Übergang vorbereitet zu sein, müssen sich die Amerikaner von tief sitzenden Vorstellungen und überholten Annahmen verabschieden und ehemals undenkbaren Gedanken die Freiheit schenken. Vor dieser Herausforderung stehen die amerikanischen Intellektuellen heute.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/ZmTgaEQde