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Die Rache des Präkariats

TURIN – Vor der COVID-19-Pandemie war die Annahme, dass die Rolle geringqualifizierter Arbeitskräfte in der Wirtschaft im Niedergang sei. In digital destabilisierten Arbeitsmärkten, in denen ausgefallene MINT- (Mathematik, Ingenieurswesen, Naturwissenschaften und Technologie) Berufe den ersten Rang einnähmen, könnten nur hochqualifizierte Fachkräfte beruflich erfolgreich sein. Diejenigen, deren Arbeitsplätze durch neue Technologien bedroht seien, seien zu unsicheren Lebensumständen, Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und sinkendem Lebensstandard verdammt.

Die Pandemie hat dieses Narrativ teilweise widerlegt, indem sie gezeigt hat, welche Arbeitnehmer wirklich systemrelevant sind. Dabei erwies sich, dass es noch immer keinen echten technologischen Ersatz für jene Straßenreiniger, Verkäuferinnen, Beschäftigte von Versorgungsunternehmen, Auslieferer von Lebensmitteln, LKW- oder Busfahrer gibt, die die Wirtschaft in den dunkelsten Tagen der Krise am Laufen hielten. In vielen Fällen führen diese Arbeitnehmer Aufgaben aus, die situative Anpassungsfähigkeit und physische Fertigkeiten von einer Art umfassen, die sich nicht ohne Weiteres in Software kodieren und von einem Roboter nachstellen lassen.

Die Tatsache, dass diese kaum qualifizierten Arbeitnehmer gegen neue Technologien bestehen können, sollte nicht überraschen. Frühere industrielle Revolutionen folgten einem ähnlichen Muster. Zumindest braucht es normalerweise weiterhin menschliche Arbeitskräfte, um die neuen Maschinen zu überwachen, zu warten oder ihnen zuzuarbeiten. Und in vielen Fällen spielen sie eine Schlüsselrolle innerhalb der neuen disruptiven Geschäftsmodelle ihrer Zeit. Die Herausforderung bestand schon immer darin, die Lücke zwischen der gesellschaftlichen Wertschöpfung, die diese Arbeitnehmer erbringen, und den Löhnen, die sie erhalten, zu schließen.

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