Nachhaltige Medizin

Es gibt kaum ein entwickeltes Land, in dem Gesundheitsreformen nicht zu einer Art chronischer Krankheit der modernen Medizin entartet sind: Sobald einige Reformen durchgeführt worden sind, erhebt sich der Ruf nach einer neuen Reformrunde. Dabei steigen die Kosten weiter und nichts scheint ihr Wachstum auf Dauer anzuhalten.

Warum? Sicherlich spielt auch die Politik eine Rolle. Doch die grundsätzlichere Ursache liegt in der Natur der modernen Medizin. In den meisten entwickelten Ländern wächst die Zahl der alten Menschen und ihr Bevölkerungsanteil. Da die Gesundheitskosten für Menschen über 65 Jahre um vier Mal höher liegen als bei den unter 65-Jährigen, nehmen die Ansprüche auf Mittel der medizinischen Versorgung in alternden Gesellschaften gewaltig zu.

Dies ist verbunden mit der ständigen Einführung neuer (üblicherweise teurerer) Technologien, und dem steigenden Verlangen nach einer Gesundheitsfürsorge von hoher Qualität. Wir wollen mehr, erwarten mehr und beklagen uns lauter, wenn wir sie nicht bekommen. Wenn wir sie bekommen, schrauben wir schnell die Meßlatte hoch und wollen noch mehr.

Netto führt das in den Vereinigten Staaten seit einigen Jahren - und ohne dass ein Ende in Sicht wäre - zu einer durchschnittlichen, sich über das gesamte System erstreckenden Kostenerhöhung von jährlich 10 % - 15 %. Auch die Europäischen Länder leiden unter einem ernsthaften Kostendruck, der ihr liebgewordenes Ideal der gleichen Versorgung für alle untergräbt.

Leider wird die größere Verbreitung von Zuzahlungen und Abzügen, der Privatisierung der Infrastruktur des Gesundheitswesens, von Wartelisten bei aufschiebbaren chirurgischen Eingriffen und bei anderen Maßnahmen der Nicht-Notfallmedizin wahrscheinlich in Zukunft auch nicht mehr bringen als in der Vergangenheit. Nötig ist eine grundsätzliche Veränderung der Art, wie wir über Medizin und Gesundheitsfürsorge denken, und nicht nur ein besserer Weg, wie wir das bestehende System umorganisieren. Wir brauchen eine "nachhaltige Medizin", die für das staatliche Gesundheitswesen erschwinglich ist und auf Dauer allen offen steht.

Der Begriff "Nachhaltigkeit" kommt aus dem Umweltschutz, der die Erde und ihre Atmosphäre schützen will, um unbeschränkt Menschenleben in guter Qualität zu erhalten. Wie im Falle des Umweltschutzes verlangt die nachhaltige Medizin eine Umformulierung der Fortschrittsidee, welche die Technologiekosten antreibt und die öffentliche Nachfrage schürt. Die westliche Fortschrittsidee setzt, wenn man sie auf die Medizin überträgt, der Verbesserung der Gesundheit keine Grenzen, soweit man darunter die Herabsetzung der Sterblichkeit und die Erleichterung bei allen medizinischen Beeinträchtigungen versteht. Um wie viel man auch die Gesundheit verbessert, es wird niemals ausreichen - und immer weitere Fortschritte werden verlangt.

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Doch lässt sich unbegrenzter Fortschritt aus einem endlichen Vermögen nicht bezahlen. Verfügbarkeit auf Dauer und die Versorgung aller benötigt eine endliche Sichtweise in Medizin und Gesundheitswesen, eine, die nicht versucht das Altern, den Tod und die Krankheit überhaupt zu überwinden, sondern nur, jedem zu helfen, einen vorzeitigen Tod zu vermeiden und ein anständiges Leben, wenn auch kein perfektes zu führen.

Das bedeutet, die medizinischen Mittel sehr genau für die Förderung der Gesundheit und Verhinderung der Krankheit einzusetzen. Milliarden von Dollar wurden für die Vermessung des menschlichen Genoms ausgegeben. Vergleichbare Summen müssen für das Verständnis und die Veränderung der Verhaltensweisen aufgewendet werden, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu Krankheiten führen. Warum nimmt überall die Fettleibigkeit zu? Warum rauchen viele Menschen noch immer? Warum ist es so schwierig, die Zeitgenossen zu mehr sportlicher Betätigung zu überzeugen?

Nachhaltige Medizin verlangt auch, den Aufwand für die Gesundheitsfürsorge mit den Ausgaben für andere gesellschaftlich wichtige Güter zu vergleichen. In einer ausgewogenen Gesellschaft könnte es sein, dass die Gesundheitsfürsorge nicht immer die oberste Priorität einnimmt. Gleichzeitig übersehen wir oft den gesundheitlichen Nutzen von Ausgaben für etwas, das nicht unmittelbar mit der medizinischer Versorgung zu tun hat: Zum Beispiel besteht ein starker Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit, je höher diese, desto besser jene.

Auf jeden Fall anerkennt die nachhaltige Medizin, dass Rationierung schon immer ein Teil der Gesundheitsfürsorge war und es immer bleiben wird. Kein System kann jedem alles bieten, was er braucht. Unsere Begehrlichkeit wird immer unsere Möglichkeiten überschreiten, besonders seit medizinische Fortschritte die Erwartungen der Öffentlichkeit steigen lassen. Doch, um gerecht zu sein, benötigt die Rationierung das Wissen und grundsätzliche Einverständnis aller, die ihm unterliegen.

Ein Ansatzpunkt wäre, die wirtschaftliche Wirkung neuer Technologien zu bewerten, vorzugsweise bevor sie der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Medizin, die sich auf nachweisbare Erfolge stützt - ein verbreitetes Verfahren, um die Kosten unter Kontrolle zu halten - zielt normalerweise nur auf die Wirksamkeit von diagnostischen oder therapeutischen Verfahren. Doch wenn Pharmaunternehmen neue Erzeugnisse auf ihre Verträglichkeit und Wirksamkeit prüfen müssen, warum nicht auch auf ihre wirtschaftlichen Auswirkungen auf das Gesundheitswesen? Neue Technologien sollten nicht ohne Einladung auf das Gesundheitswesen losgelassen werden. Nur wenn eine Technologie die Kosten kaum merklich erhöht, oder das nur in Ausnahmefällen tut, sollten Regierungen bereit sein, dafür aufzukommen.

Am wichtigsten ist aber, dass umgrenzte Medizinvorstellungen Altern und Tod des Menschen als Teil seines Lebenszyklus akzeptieren müssen, und sie nicht als irgendwie umgehbare Zustände ansehen. Die Medizin muss den Schwerpunkt von der Länge des Lebens auf seine Qualität umverlagern. Eine Medizin, welche die Menschen zu lange am Leben hält, ist keine ehrliche und keine menschliche Medizin. Wir können 85 Jahre alt werden, doch wahrscheinlich nur mit chronischen Zuständen, die uns krank machen und Schmerzen bereiten.

Das ist kein Argument gegen den Fortschritt: Ich bin für meinen Teil froh, dass die Menschen nicht mehr im Alter von 40 Jahren an Masern sterben. Doch werden letztendlich Alter und Tod doch die Oberhand behalten. Mit dem medizinischen Fortschritt verhält es sich wie mit der Erforschung des fernen Weltraums: Egal wie weit wir sehen, wir könnten immer noch ein Stück weiter sehen. Im Falle der Raumfahrt wurden die wirtschaftlichen Grenzen der unbegrenzten Forschung bald offenkundig: Keine Mondlandungen mehr! Die Medizin verlangt nach einer analogen Einsicht.

Verlangsamter technologischer Fortschritt mag als ein zu hoher Preis erscheinen, der für ein nachhaltiges Gesundheitswesen zu zahlen ist. Aber unsere gegenwärtigen Systeme kosten sogar einen noch höheren Preis; er gefährdet die Gerechtigkeit und die gesellschaftliche Stabilität. Gleichzeitig lassen sich nur etwa 40 % der Verbesserung im Gesundheitswesen des vergangenen Jahrhunderts auf den medizinischen Fortschritt zurückführen, der Rest entfällt auf verbesserte gesellschaftliche und wirtschaftliche Zustände. Dieser Trend wird sich wahrscheinlich fortsetzen, so dass die Menschen, selbst wenn sich der technologische Fortschritt verlangsamt, wohl mit Sicherheit in Zukunft länger und in besserer Gesundheit leben werden als heute. Mit einem solchen Ergebnis sollte sich jeder abfinden können.

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