Sollen Kinder Antidepressiva nehmen?

In den letzten 12 Monaten gab es im Hinblick auf die Behandlung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen radikale Wendungen und erhebliche Kontroversen. Obwohl nur wenige Antidepressiva für den Einsatz im pädiatrischen Bereich zugelassen sind, ist die Verschreibung dieser Medikamente in der Gruppe der Personen unter 18 in den letzten zehn Jahren um rund 60 % gestiegen. Über eine Million Kinder und Jugendliche werden mit so genannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) behandelt.

Nun haben allerdings Bedenken hinsichtlich der Sicherheit und der Nebenwirkungen dieser Medikamente bei Kindern und Jugendlichen – einschließlich erhöhter Selbstmordraten – die Gesundheitsbehörden in vielen Ländern auf den Plan gerufen. Nach Prüfung aller relevanten pädiatrischen Studien hat die britische Arzneimittelzulassungsbehörde (Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency, MHRA) nun bekannt gegeben, dass die Risiken aller SSRI (außer Fluoxetin) höher sind als ihr Nutzen und dass diese Produkte daher nicht als neue Therapie für Patienten unter 18, die an einer depressiven Erkrankung leiden, verordnet werden sollten.

Zum ersten Mal veröffentliche die MHRA eine Zusammenfassung ihrer Prüfung, in der sowohl Daten zur Wirksamkeit als auch zur Sicherheit aus allen Studien erhoben wurden, ungeachtet dessen, ob diese Studien vorher veröffentlicht wurden oder nicht. Das war ein entscheidendes Kriterium, denn ungefähr die Hälfte der Studien waren nicht in Peer-Review-Journalen publiziert worden.

Die von der MHRA veröffentlichten Daten der pädiatrischen Studien boten eine einzigartige Chance herauszufinden, ob die nicht veröffentlichten Daten mit den Resultaten der veröffentlichten Studien über SSRI übereinstimmten. Meine Kollegen und ich wandten uns in einer im April 2004 im britischen Medizin-Journal The Lancet veröffentlichten Erörterung dieser Frage zu. Darin zeigten wir, dass in veröffentlichten Daten allgemein von minimalem Risiko gesprochen wurde, während die unveröffentlichten Studien weit weniger optimistisch waren und sogar auf ein erhöhtes Risiko ernsthafter Nebenwirkungen hinwiesen, darunter auch Suizid bezogenes Verhalten.

Die MHRA war nicht die einzige Stelle, die Bedenken hinsichtlich pädiatrischer Studien hatte. In einem im April 2004 im British Medical Journal (BMJ) veröffentlichten Artikel wurde behauptet, dass Beweise für die Wirksamkeit der Medikamente überbewertet, die Hinweise auf deren Risiken hingegen unterbewertet wurden. In einem Artikel des amerikanischen „Center for Science in the Public Interest“ teilte man sämtliche verfügbaren Placebo kontrollierten SSRI-Studien an Kindern und Jugendlichen in zwei Kategorien ein: in von der Pharmaindustrie finanzierte und nicht von der Pharmaindustrie finanzierte. Die Ergebnisse zeigten, dass 90 % der von der Industrie finanzierten und in der einschlägigen Literatur veröffentlichten Studien positiv waren, während nur 55 % der nicht von der Industrie finanzierten Studien derartig positive Ergebnisse aufwiesen.

Seit kurzem verlangt die amerikanische Gesundheitsbehörde „Food and Drug Administration“ (FDA), dass auf der Produktkennzeichnung aller Antidepressiva ein strenger Warnhinweis angebracht werden muss. Gebrauchsbeschränkungen für einzelne Medikamente wurden allerdings nicht ausgesprochen. Zu dieser Warnung kam es, nachdem eine von der FDA in Auftrag gegebene Reanalyse der Sicherheitsdaten aus allen Studien neuerer Antidepressiva ein erhöhtes Selbstmordrisiko (definitiv suizidales Verhalten/ Suizidgedanken) sowie ein erhöhtes Risiko für feindseliges Verhalten aufgrund der Behandlung oder Rastlosigkeit bei jenen Patienten festgestellt hatte, die mit dem aktiven Medikament und nicht mit Placebos behandelt wurden.

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Daher ist es nun nicht schwierig zu erkennen, warum mancherorts argumentiert wird, dass von der pharmazeutischen Industrie nur wenig unternommen wurde, um die Risiken und Nutzen ihrer Produkte für Menschen unter 18 ordnungsgemäß zu beurteilen. Vielfach wurden nur Studien mit günstigen Ergebnissen veröffentlicht. Das Problem ist weit verbreitet und auch nicht auf pharmazeutische Unternehmen beschränkt. Sowohl Zulassungsbehörenden als auch Kliniker, die Studien durchgeführt haben, ernteten Kritik.

Zusätzlich Öl ins Feuer gießt der New Yorker Generalstaatsanwalt Eliot Spitzer, der jüngst einen Zivilprozess gegen GlaxoSmithKline anstrengte. Der Konzern soll eine Studie mit günstigen Ergebnissen für Paroxetin zur Behandlung kindlicher Depressionen veröffentlicht und gleichzeitig ungünstige Studienergebnisse heruntergespielt haben, wodurch angeblich Ärzte in die Irre geführt wurden. Als Reaktion darauf veröffentliche GlaxoSmithKline auf seiner Webseite sämtliche Berichte aller Studien, einschließlich der über Paroxetin, bei Patienten unter 18.

Dieser Fall offenbart die dringend nötigen Änderungen in der Art, wie Daten gesammelt und veröffentlicht werden, um die Sicherheit und Wirksamkeit von SSRI bei der Behandlung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen definitiv zu beurteilen. Strengere Richtlinien für klinische Studien sind ebenso nötig wie eine öffentliche weltweite Datenbank mit Studienprotokollen und regelmäßig aktualisierten Information über den Verlauf dieser Studien und deren Veröffentlichungen. Überdies sollen sowohl Nutzen als auch Risiken aller Studien innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens veröffentlicht werden. Ordnungsgemäß ausgeführte und nicht von der pharmazeutischen Industrie finanzierte Studien sind nötig, um sowohl Sicherheit als auch Wirksamkeit der Medikamente zu bestätigen. Schließlich müssen in der Produktkennzeichnung auch negative oder zweifelhafte und nicht nur positive Ergebnisse angeführt werden.

Derartige Änderungen könnten durchaus zu einem dramatischen Rückgang in der Verschreibung von SSRI bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Depressionen führen. Ungeachtet der Ergebnisse ist es jedenfalls dringend nötig, dass die Zweifel hinsichtlich der Sicherheit dieser Medikamente zerstreut werden.

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