Ein Blick hinter kulturelle Voreingenommenheit in der Wissenschaft

Die meisten Menschen haben sich mittlerweile damit abgefunden, dass sich kulturelle Voreingenommenheit in Bereichen wie Politik und Journalismus wiederspiegelt und dort aufrechterhalten wird. Dennoch nehmen wir an, dass die Wissenschaft frei von kulturellen Vermutungen ist. Für einige Bereiche mag dies mehr oder weniger zutreffen - sagen wir, für die Chemie oder die Physik. Mein eigenes Eckchen in der Wissenschaft, die Ethologie oder Verhaltensforschung bei Tieren, ist bestimmt nicht frei davon.

Die Art und Weise wie wir Tiere sehen, reflektiert unseren Blick auf uns selbst. Kinji Imanishi, der Begründer der japanischen Primatenforschung, könnte einiges darüber erzählen. Imanishi hat behauptet, dass die Natur von Natur aus eher harmonisch als vom Konkurrenzdenken geprägt ist und die Arten ein ökologisches Ganzes bilden. Diese eher undarwinistische Perspektive hat den mittlerweile verstorbenen britischen Paläontologen Beverly Halstead so in Rage versetzt, dass er 1984 nach Kyoto flog, um Imanishi zu konfrontieren. Ohne sich davon abhalten zu lassen, dass er Imanishis Arbeit -die niemals übersetzt worden war- nicht selbst gelesen hatte, ließ Halstead ihn wissen, dass seine Theorie "in ihrer Unnatürlichkeit japanisch" sei.

Was hat Halstead dazu getrieben so unverschämt zu sein? Warum hat er später einen Artikel verfasst, in dem er nicht nur Imanishis Ansichten, sondern auch dessen Heimat kritisierte? Warum hat " Nature" , eines der angesehensten Wissenschaftsmagazine, diesen Artikel 1985 veröffentlicht und auch noch mit der herablassenden Überschrift versehen, dass "die Popularität von Kinji Imanishis Schriften in Japan interessante Einblicke in die japanische Gesellschaft biete"? Könnte man das Gleiche nicht auch von Darwins Theorie des unaufhörlichen Konkurrenzkampfes behaupten, die aus einer Gesellschaft erwuchs, die den Kapitalismus des freien Marktes geboren hat?

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