Russlands Bevölkerungsimplosion

Vor Jahren prägte Alexander Solschenizyn den Ausdruck von der „Erhaltung der Menschen”, und meinte damit das kulturelle Überleben Russlands. Heute trifft diese Phrase in einem viel wörtlicheren Sinn auf Russland zu.

Ich bin zwar Physiker, begann mich aber vor 15 Jahren mit Demographie zu beschäftigen. Dies im Glauben, dass das Hauptproblem dieser Welt nicht so sehr die Bedrohung durch atomare Auslöschung sondern die Dynamik des Bevölkerungswachstums sei. Es war eine bittere Erkenntnis, dass Russland mit dem gegenteiligen Problem konfrontiert ist: Nämlich mit einem rapiden Bevölkerungsschwund, der jeden Aspekt des Lebens in Russland bedroht.

Tatsächlich sank die Einwohnerzahl in Russland trotz der vielen Tausend russischen Heimkehrer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken allein in den letzten zehn Jahren um 9,5 Millionen. Die Geburtenrate ist seit dem Jahr 2000 zwar leicht gestiegen und beträgt momentan 1,5 Millionen pro Jahr, aber das liegt noch immer um 700.000 bis 800.000 unter der Ersatzrate.

Zahlreiche Beobachter meinen, die Russen bekämen nicht genug Kinder, weil das Leben so hart ist. So einfach ist das Problem allerdings nicht. Auch in den Vereinigten Staaten, Europa, Japan, Australien und Kanada sinken die Geburtenraten. In Spanien beträgt sie 1,07 pro Frau und ist damit sogar noch niedriger als in Russland.

Die einzigartige Situation in Russland liegt vielmehr in der hohen Sterblichkeitsrate unter jungen Männern begründet, die direkt der schlechten Ernährung und dem hohen Alkohol- und Tabakkonsum zuzuschreiben ist sowie indirekt mit den Belastungen durch die schmerzhaften wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in Zusammenhang steht, die mit Gorbatschows Perestroika vor 20 Jahren ihren Ausgang nahmen. Der sowjetische Demograph Boris Urlanis schrieb einen berühmten Artikel mit dem Titel „Kümmert euch um die Männer“, der nach seiner Veröffentlichung vor ungefähr 25 Jahren eine Sensation hervorrief. Urlanis Argument – dass nicht die Frauen sondern die Männer die empfindlicheren Geschöpfe sind – ist heute umso mehr von Bedeutung, da das Leben in der Familie verfällt, die Hälfte der Ehen geschieden werden und die Zahl der vaterlosen Kinder in Rekordhöhen steigt.

An dieser Stelle kommt nun die abgeänderte Bedeutung von Solschenizyns „Erhaltung der Menschen“ ins Spiel. Solschenizyn selbst schlug jüngst vor, dass der russische Nationalgedanke auf jenem Vorschlag beruhen sollte, den Iwan Petrowitsch Schuwalow Zarin Elisabeth vor 250 unterbreitete. „Jede Maßnahme, jedes Gesetz sollte dahingehend überprüft werden, ob es dabei hilft, die Menschen zu erhalten“, so Solschenizyn. „Andernfalls ist das Gesetz abzuschaffen.”

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Solschenizyns Vorschlag ist zwar plump, aber in grundlegender Weise doch richtig. Unsere öffentliche Meinung ist gespalten und die Intelligenzia des Landes, die für die Werte und Ziele der Gesellschaft eine teilweise Verantwortung trägt, verhält sich vielfach destruktiv. Die von ihr geförderte hedonistische Mentalität des Lebens für den Moment und der Gier findet ihre Verkörperung in den Casinos von Moskau. Dort gibt es inzwischen mehr dieser Einrichtungen als im restlichen Europa – oder sogar in Las Vegas.

Diese Werte – die in der Art der Kleidung, im Verhalten in der Öffentlichkeit und in der Sprache der Menschen ihren Niederschlag finden – sind nicht die Werte des menschlichen Lebens. In Russland breitet sich eine kriminelle Subkultur aus, die den Status einer offiziellen Kultur erlangt. Wo sich die Intelligenzia nicht direkt mitschuldig macht, haben sich ihre Mitglieder einfach durch Schweigen vor der Verantwortung gedrückt, die mit Freiheit verbunden ist. Im Gegensatz dazu waren sich Solschenizyn, Tolstoi und andere Schriftsteller der großen russischen Tradition dieser Verantwortung umfassend bewusst.

Die gegenwärtige russische Interpretation von Freiheit ist hingegen von einem engstirnigen, individualistischen Laissez-Faire-Stil geprägt, der sich mit Aufgaben der Gemeinschaft nicht in Einklang bringen lässt. Mit anderen Worten: Die demographische Krise in Russland ist die Manifestation einer Krise der geistigen Inhalte.

Dies führt natürlich zur übergeordneten Frage, ob die sinkenden Geburtsraten in Russland und anderswo eine Krise des liberalen Freiheitsgedankens mit seiner Konzentration auf individuelle Rechte impliziert.

Fraglos ist der Liberalismus ein Faktor, der dazu beitragen könnte, und zwar dort, wo er in jener Form interpretiert wird, wonach der Einzelne keinerlei Aufgaben gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen hat. Die Meinung, wonach der Liberalismus schuld and sinkenden Geburtenraten und dysfunktionalen Familien sei, ist im Westen weit verbreitet, wo momentan populäre Bücher wie Der Tod des Westens von Pat Buchanan auf dem Markt sind.

Ich glaube allerdings, dass die Krise tief greifender ist und einen Mangel an Bewusstsein für die Wege und Ziele der menschlichen Entwicklung widerspiegelt – dass es sich also um Ignoranz handelt, die nicht nur auf die Demokratie westlichen Zuschnitts oder liberale Ideen beschränkt ist. Für Russland ist die Angelegenheit einfach, da die Krise – die schon mehr obdachlose Kinder hervorgebracht hat als der Bürgerkrieg oder der Zweite Weltkrieg – so allumfassend ist. Zur„Erhaltung der Menschen“ bedarf es nicht weniger als dass unsere Männer auf sich achten, so dass sie sich auch angemessen um ihre Kinder kümmern können.

https://prosyn.org/bjwLUZvde