kolesnikov9_SefaKaracanAnadoluAgencyGettyImages_protestersholdingrussianflag Sefa Karacan/Anadolu Agency/Getty Images

Worum es bei den Protesten in Russland geht

MOSKAU – Der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, heute Vorsitzender der russischen Rechnungskammer, hat gewarnt, das Land riskiere eine Welle von Protesten, hervorgerufen durch einen sinkenden Lebensstandard und weit verbreitete Armut. Er hat Unrecht.

Kudrin wird allgemein als der Fahnenträger der liberalen Technokraten angesehen, die im illiberalen System des russischen Präsidenten Wladimir Putin arbeiten, und seine Worte haben bei aufgeschlossenen Beobachtern ein großes Gewicht. Aber bei der Beurteilung der heutigen sozialen Unruhen in Russland verwechselt Kudrin wirtschaftlichen Frust mit etwas Wesentlichem: dem Kampf um die Würde.

Natürlich haben die Russen ernsthafte wirtschaftliche Probleme. Der Rückgang des realen Haushaltseinkommens - den Kudrin als Hauptgrund für die öffentliche Verdrossenheit nannte - hält seit 2014 ununterbrochen an. Damals traf Putin die kostspielige Entscheidung, die Krim zu annektieren. Es überrascht nicht, dass der private Verbrauch schwach ist. Und im vergangenen Jahr, als die Regierung drastische Rentenreformen durchführte - die unter anderem das Rentenalter um fünf Jahre anhoben -, waren die Proteste der Bevölkerung laut genug, um Putin nicht nur zu zwingen, die Politik öffentlich zu verteidigen, sondern auch einige Zugeständnisse zu machen.

Die Russen waren von Putins Argumenten nicht ganz überzeugt, und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung fiel. Obwohl die Proteste gegen die Rentenreformen verblassten (teilweise mit Hilfe einiger Verhaftungen durch Regierungskräfte), bestraften die Wähler Putins Partei „Einheitliches Russland” bei den Regionalwahlen im September, und die Zustimmungsrate Putins - die bei rund 80% gelegen hatte - ist seit Oktober 2018 auf 64-68% gesunken.

Putin ist damit heute etwa so beliebt wie vor der Annexion der Krim, und die damit einhergehende nationalistische Rhetorik hat die Unterstützung für ihn verstärkt. Fünf Jahre später scheint diese Taktik nicht mehr zu funktionieren: Heute ist es nicht mehr so einfach, die Russen vom antiwestlichen Diskurs und der militaristischen Rhetorik zu überzeugen.

Damit hat seine liebste Taktik, mit der er sich die Unterstützung der öffentlichen Meinung sicherte, an Wirkung verloren, was ihn in eine unangenehme Lage bringt. Tatsache bleibt jedoch, dass seine Zustimmungsrate zwar niedriger ist, als er es sich wünschen würde, sich aber stabilisiert hat, was darauf hindeutet, dass die Russen ihre wirtschaftliche Notlage weitgehend als „neue Normalität” akzeptiert haben.

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Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Russen bereit sind, andere „normale” Verhaltensweisen ihrer Regierung zu akzeptieren. Denken Sie an die Proteste, die im Mai in Jekaterinburg ausgebrochen sind, der viertgrößten Stadt Russlands. Grund waren Pläne der Regierung, auf einer der wenigen verbleibenden Grünflächen der Stadt eine neue orthodoxe Kathedrale zu bauen.

Das Thema war Korruption, nicht Wirtschaft oder gar Religion - selbst tief gläubige Russen lehnten den Schritt ab. Die Menschen haben genug von den Beziehungen zwischen Regierungsbehörden, der russisch-orthodoxen Kirchenhierarchie und bevorzugten Geschäftsleuten. Putin, der sich die Unterstützung seiner traditionellen Basis - gewöhnliche Russen außerhalb Moskaus – erhalten will, befahl den lokalen Behörden, das Projekt zumindest vorerst auszusetzen. Es war ein seltener Sieg für die russische Zivilgesellschaft.

Dann gab es die Proteste, die durch die Verhaftung von Ivan Golunow ausgelöst wurden, einem angesehenen investigativen Journalisten. Er berichtete von Korruption in Bestattungsunternehmen, zweifelhaften Drogenvorwürfen und seiner anschließenden Misshandlung in Haft durch die Sicherheitsdienste. Der Aufruhr und die Empörung waren so groß, dass der Kreml in einer ungewöhnlichen Wendung der Ereignisse schnell befahl, Golunow freizulassen, anstatt ihn mit jahrelanger Haft zu bestrafen, wie es für Menschen in seiner Position zu erwarten gewesen wäre. Wieder einmal zeigte Putin seinen Wunsch, die Öffentlichkeit zu beruhigen, anstatt die weitere Erosion der Unterstützung durch die Bevölkerung zu riskieren.

Aber die Beschwichtigung hat ihre Grenzen. Nach der Freilassung Golunows verhaftete die Polizei mehr als 500 Demonstranten im Zentrum Moskaus, die gegen die allgemeine Unterdrückung unabhängiger Medien und die Inhaftierung politischer Gefangener protestierten.

Der beeindruckendste Fall von zivilem Ungehorsam ereignete sich kürzlich im hohen Norden Russlands, in der Provinz Archangelsk. Nachdem sie (zufällig) von den Plänen der Regierung erfahren hatten, Müll aus Moskau in den unberührten Wäldern der Region zu begraben - beginnend in der Stadt Shiyes -, organisierten die Ortsansässigen Demonstrationen, die jetzt bereits ein Jahr laufen und sich auf die benachbarten Regionen ausdehnen.

Auch hier gibt es eine wirtschaftliche Komponente: Die Menschen in einer armen Region erheben sich gegen die Übergriffe des reichen Moskau. Aber sie fordern keine Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Realeinkommen. Stattdessen verteidigen sie ihre öffentlichen Räume gegen die Besetzung durch die Zentralregierung - nicht nur, indem sie ein Ende des Deponiebaus fordern, sondern auch, indem sie den Rücktritt ihres Gouverneurs und in jüngster Zeit Putins selbst fordern.

Obwohl die Regierung ihre Deponiepläne in Shiyes im Mai ausgesetzt hat, hat Putin die Proteste nur einmal erwähnt und den Konflikt als rein regional bezeichnet. Es ist kein Zufall, dass das Thema nicht am 20. Juni während Putins Bürgergespräch auftauchte: einer jährlichen Live-Sendung, in der der Präsident Fragen von russischen Bürgern beantwortet. Der Kreml, so scheint es, ist sich nicht ganz sicher, wie er diese neue Art von Widerstand bewältigen soll.

Und der Wiederstand hat eine neue Qualität. Die Archangelsker Demonstranten haben außergewöhnliche Entschlossenheit, Professionalität und Einsicht in die Machenschaften der Regierung Putins bewiesen. Die Demonstrationen wurden nicht von einer bestimmten Gruppe oder Bewegung mit großen politischen Entwürfen geleitet. Stattdessen sind die Demonstranten in Archangelsk - ähnlich wie die in Jekaterinburg und sogar in Moskau - einfach Menschen, die dafür kämpfen, dass ihre Regierung sie endlich mit der Würde und dem Respekt behandelt, die sie verdienen.

Aus dem Englischen von Eva Göllner.

https://prosyn.org/XhMQRYNde