Reiches Europa, armes Europa

Seit ihren frühsten Tagen strebt die Europäische Union eine ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung ihrer vielen Regionen an. Der Vertrag von Maastricht enthält diesbezüglich die frappierende Formulierung „eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes“. Doch so bewundernswert eine derartige Einstellung auch sein mag: Was das „richtige“ Niveau an Unterschieden und die korrekte Geschwindigkeit der Konvergenz angeht, lässt sich nicht mit „wissenschaftlicher Genauigkeit“ sagen.

Nichtsdestotrotz ist es nützlich, die wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der EU mit jenen in den Vereinigten Staaten zu vergleichen, um die regionale Konvergenz innerhalb Europas zu bewerten – wobei man natürlich im Hinterkopf behalten muss, dass die USA seit mehr als zwei Jahrhunderten ein Nationalstaat sind, während die EU am ehesten als eine Konföderation von 27 Staaten unter einer supranationalen Struktur zu betrachten ist.

Lassen Sie uns zunächst einen historischen Blick auf den westlichen Teil der EU werfen. 1960 waren die Unterschiede dessen, was später als EU-15 bekannt wurde, etwa doppelt so groß wie jene zwischen den Einzelstaaten der USA. Heute sind sie mit den Einkommensunterschieden innerhalb Amerikas vergleichbar. Die Einkommensunterschiede haben sich sowohl in nominaler Hinsicht – ausgedrückt in Euro – als auch in realer Hinsicht unter Berücksichtigung der Kaufkraft halbiert.

Westeuropa erlebte zunächst eine Phase, in der sich die realen Einkommen aneinander annäherten, und anschließend eine Phase der Preiskonvergenz. In den 1960er und frühen 1970er Jahren reduzierten sich die Unterschiede bei der Kaufkraft um etwa 40%. Diese Entwicklung kam dann zum Stillstand, während sich die nominalen Einkommensunterschiede ab der Mitte der 1970er Jahre bis 1990 in ähnlichem Umfang verringerten. Mit der Einführung des Euro und dem Rückgang der Inflation haben sich nominale Konvergenz und reale Konvergenz aneinander angenähert und beide seit Mitte der 1990er Jahre allmähliche Fortschritte gemacht.

Die durchschnittliche Bevölkerungszahl der EU-15 beträgt etwa 25 Millionen, viel mehr also als die sechs Millionen Einwohner eines durchschnittlichen US-Staats. Dies ähnelt mehr der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Regionen der EU – wie etwa Bayern, Wallonien, der Île-de-France und den Kanarischen Inseln. Vielleicht ist es daher also nützlicher, die 50 US-Staaten mit den 72 Regionen der EU zu vergleichen.

Der Trend zur Konvergenz innerhalb der EU auf Länderebene spiegelt sich in den Regionen wider. Doch sind die Einkommensunterschiede in den Regionen verglichen mit jenen in den amerikanischen Einzelstaaten noch immer erheblich. Es ist wahr, dass das Wachstum in den ärmeren EU-Ländern das in den reichen tendenziell übersteigt. Das Wachstum der ärmeren Regionen jedoch übersteigt nicht notwendigerweise jenes der reichen Regionen oder selbst den Länderdurchschnitt. Die regionalen Unterschiede können also fortbestehen oder sogar zunehmen, was eine Herausforderung an die mit der Stimulierung des Wirtschaftswachstums und des regionalen Zusammenhalts befassten politischen Entscheidungsträger darstellt.

Subscribe to PS Digital
PS_Digital_1333x1000_Intro-Offer1

Subscribe to PS Digital

Access every new PS commentary, our entire On Point suite of subscriber-exclusive content – including Longer Reads, Insider Interviews, Big Picture/Big Question, and Say More – and the full PS archive.

Subscribe Now

Und was ist mit den Unterschieden beim Wohlstand in der heutigen EU mit ihren 27 Mitgliedssaaten? Seit dem Beitritt von zehn neuen Staaten 2004 und zwei weiteren 2007 umspannt die Mitgliedschaft der Union inzwischen Mittel- und Osteuropa. In den 1990er Jahren mussten sich diese ehemals kommunistischen Länder mit vorübergehenden Einkommensrückgängen auseinander setzen, als der größte Teil ihrer Industrieproduktion praktisch über Nacht obsolet wurde. Inzwischen wurden neue Produktionskapazitäten geschaffen und neue Märkte erschlossen, doch der Aufholprozess ist noch lange nicht abgeschlossen.

Es kann daher nicht überraschen, dass die regionalen Einkommensunterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten der erweiterten EU wesentlich größer sind als zwischen den US-Staaten. Im Jahre 2005 waren die durchschnittlichen Einkommensunterschiede innerhalb der damaligen EU-25 doppelt so hoch wie jene zwischen den amerikanischen Einzelstaaten. Aber sie haben sich innerhalb der vergangenen zwölf Jahre um fast ein Drittel verringert. Wie bei der EU-15 erweist sich die Einkommenskonvergenz der Regionen erneut als geringer als die zwischen den Ländern.

Jüngste empirische Hinweise belegen, dass die mittel- und osteuropäischen Regionen, die am meisten von der EU-Mitgliedschaft profitieren, diejenigen sind, die die Hauptstädte der betreffenden Länder umschließen oder an eines der 15 alten Länder grenzen. Solange die armen Mitgliedsstaaten allerdings schneller wachsen als ihre reichen Gegenstücke, sollte man über vorläufige intranationale Unterschiede nicht allzu besorgt sein.

Tatsächlich könnte eine zeitweise Zunahme der intranationalen Unterschiede eine gute Sache sein. Globalisierung und technologische Veränderungen gestalten die Produktion europaweit um, was zum Niedergang traditioneller Branchen und zum rasanten Wachstum der Hightechfertigung, des Bank- und Finanzsektors, der wissenschaftlichen Forschung und der Unternehmensdienstleistungen führt. Die Tatsache, dass Unternehmen in diesen Sektoren davon profitieren, wenn sie in enger Nachbarschaft operieren, mag eine wirtschaftliche Entwicklung zulasten der Randregionen fördern.

In den USA ist die erfolgreiche Konvergenz zwischen den Regionen, was die wirtschaftliche Lage angeht, stark von der Mobilität der Arbeitskräfte abhängig. Interne Migration ist die zentrale Triebkraft für die Konvergenz der Einkommen. Unterstützt wird diese durch die gemeinsame Sprache und all die anderen Faktoren, die die Mobilität in Amerika begünstigen, wie etwa den vergleichsweise einfachen Zugang zu Wohnungen und Bildung.

Im Gegensatz hierzu ist eine Mobilität der Arbeitskräfte in der EU überwiegend nicht gegeben. Trotz populistischer Reden über die von den „polnischen Klempnern“ ausgehende Bedrohung werden die Nettomigrationsströme zwischen den Regionen im Allgemeinen kaum von Unterschieden zwischen den Regionen bei der Arbeitslosenquote beeinflusst.

Natürlich beruht die geringe Mobilität der Arbeitskräfte in Europa teilweise auf sprachlichen und kulturellen Unterschieden – Barrieren, die sich nicht so leicht abbauen lassen. Andere Barrieren jedoch lassen sich überwinden: etwa durch Reformen bei der Wohnungspolitik, eine Verringerung der Kosten des Wohnsitzwechsels und die Überarbeitung der Sozial- und Wohlfahrtspolitik, um Befürchtungen über den Verlust langfristiger Leistungen auszuräumen.

Eine Verringerung des Angebots an Arbeitskräften in den wirtschaftlich schwachen Gebieten Europas und die Erhöhung des Arbeitskräfteangebots in den florierenden Regionen würde viel dazu beitragen, Unterschiede bei den Löhnen und Gehältern und bei der Arbeitslosenquote zu verringern. Es wird Zeit, dass wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir die Europäer mobiler machen.

https://prosyn.org/lcvVPi8de