NEW YORK – Es widerstrebt mir, Wladimir Putin beizupflichten, auch in nur begrenztem Ausmaß. Der russische Präsident lenkt sein Land – das Land meiner Geburt – nach rückwärts und argumentiert fälschlicherweise, dass die Verletzung des Völkerrechts irgendwie gut für die Russen sei. Doch die hysterische Reaktion der Amerikaner auf die angeblichen Bestrebungen des Kreml, die Präsidentenwahlen in den USA zu beeinflussen, hat mich gezwungen, die Dinge aus der Perspektive Putins zu betrachten.
Freilich sind die Behauptungen der US-Geheimdienste, wonach Russland Falschmeldungen in Umlauf brachte und gehackte E-Mails veröffentlichte, um Hillary Clintons Chancen gegen Donald Trump zu verringern, nicht unbegründet. Es entspricht sicher Putins Charakter, auf krummen Wegen hinter Geheimnisse zu kommen und Desinformationen in die Welt zu setzen; er war schließlich KGB-Agent.
Ebenso klingen auch die – bislang allerdings unbestätigten - Anschuldigungen, wonach Putin über ein Dossier mit kompromittierendem Material über Trump verfügt, durchaus glaubhaft. Es ergäbe für Russland wenig Sinn, ausgerechnet Trump aus den Ränkespielen auszunehmen. Aber auch jenseits des Themas Trump müsste den Spitzen der Republikanischen Partei bewusst sein, dass Russland, wenn es die Demokraten hackte, auch die Server der eigenen Partei ausspähte.
Selbst wenn die angeblich sensationellen Details des Dossiers nicht genau stimmen, befindet sich Russland aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest im Besitz einiger kompromittierender Geschäftsunterlagen oder sogar von Trumps Steuerklärungen – Informationen also, die Trump unter größtmöglichem Einsatz vor der amerikanischen Öffentlichkeit zu verbergen trachtete. Wenn sich Trump nun nicht benimmt, und sich in Fragen von der NATO bis zur Ukraine nicht auf Russlands Seite schlägt, wird er seine Geheimnisse wohl gelüftet sehen, so wie dies auch bei Clinton der Fall war.
Die Reaktion der USA auf diese Aussichten war extrem. Die überzeugten Trump-Anhänger sind hinsichtlich der brüchigen Männerfreundschaft zwischen Trump und Putin bereit, Nachsicht walten zu lassen - trotz des offenkundigen Risikos, dass diese Beziehung von beiden Seiten ausgenutzt werden könnte. Andere, darunter einige hochrangige Republikaner, zitieren den jüngst veröffentlichten US-Geheimdienstbericht über Russlands vermutete Einmischung in die Wahlen und verlangen harte Maßnahmen gegen Putins Regierung, auch wenn ein neuer Kalter Krieg eindeutig in niemandes Interesse liegt.
Meiner Ansicht nach war der Geheimdienstbericht prinzipiell problematisch. Er strotzt vor Spekulationen und Verzerrungen und beruht auf dem Argument, dass Putin ein Feind sein muss, weil er die Werte des Westens nicht teilt. Aber wie könnte er das auch? Russland war in der Weltordnung des Westens nie ganz willkommen und noch viel weniger in der Lage, auf Augenhöhe daran teilzuhaben. Aus diesem Grund hat Putin versucht, seine eigene internationale Ordnung zu schaffen.
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Tatsächlich wollte Putin in der ersten Zeit seiner Präsidentschaft Russland als Teil Europas sehen. Doch er wurde umgehend mit der Erweiterung der NATO in die baltischen Staaten konfrontiert. Im Jahr 2006 kündigte die Administration des damaligen US-Präsidenten George W. Bush ihre Pläne zum Bau eines Raketenabwehrschilds in Osteuropa an, um die westlichen Verbündeten vor Interkontinentalraketen aus dem Iran zu schützen. Russland betrachtete diesen Plan – den Präsident Barack Obama letztes Jahr durchzog – als direkte Bedrohung und als Zeichen, dass Rufe nach engeren Verbindungen mit Vorsicht zu genießen sind.
Die USA unterstützen Anti-Putin-Kräfte seit 2008, intensivierten diese Unterstützung aber im Jahr 2011, als Putin, damals Premierminister, sich auf die Rückkehr in das Präsidentenamt vorbereitete. Im Jahr 2013 begrüßten die USA die Proteste in der Ukraine, die zum Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch führten. Janukowitsch war zweifellos ein Ganove, aber die USA unterstützen viele Ganoven. Ihre Bestrebungen, Russland oder anderen Mächten, das Recht auf ähnlich widerliche Lakaien vorzuenthalten, sind reine Heuchelei.
Von derartiger Doppelmoral ist die amerikanische Außenpolitik durchdrungen. Bushs Krieg im Irak wurde auf Grundlage tendenziöser Geheimdienstinformationen erklärt. Obama seinerseits unterstützte die Aufstände des Arabischen Frühlings, bot allerdings keine demokratiefördernden Strategien an – ein Ansatz, der aus Libyen einen gescheiterten Staat machte, der die diktatorischen Züge in Ägypten verstärkte und Syrien in einen albtraumhaften und langwierigen Konflikt stürzen ließ. Unterdessen spionierte die amerikanische National Security Agency alles und jeden aus – ob Freund oder Feind.
Im US-Geheimdienstbericht wird behauptet, Putin sei bestrebt, die liberale Demokratie zu untergraben. Klar scheint allerdings, dass sein vorrangigeres Ziel darin besteht, die Doppelmoral des Westens zu entlarven und damit die ihm vom Westen in den Weg gelegten Hindernisse hinsichtlich der Verfolgung russischer Interessen zu beseitigen. Wenn sich die USA so aufführen können, ohne sich zu entschuldigen, so Putins Denkweise, stellt sich die Frage, warum Russland seine Einflusssphäre, beispielsweise in der Ukraine, verwehrt werden solle.
Und warum hätte Putin auch nicht versuchen sollen, Trump auszuhelfen? Die Ukrainer machten sich im Wahlkampf für Clinton stark, weil sie glaubten, sie würde sich für deren Interessen einsetzen. Es ist vollkommen nachvollziehbar, dass Putin Trump unterstützte, der wiederholt seine Bewunderung für dessen Amtsführung ausdrückte, und nicht Clinton, die ihn mit Adolf Hitler verglichen hatte. Bei der Vorstellung, Putin sollte keine Maßnahmen zum Schutz seiner Interessen ergreifen, handelt es sich um eine als Objektivität getarnte ideologische Parteilichkeit, die auch Putins Behauptungen, der Westen sei hinter ihm her, glaubwürdig erscheinen lässt.
Verstehen Sie mich nicht falsch: trotz aller Unzulänglichkeiten bleiben die USA eine positive Kraft auf dieser Welt. Sie sind vielleicht die einzige positive Kraft neben der Europäischen Union, die mit ihrem Gezänk aufhören sollte und damit beginnen, größenwahnsinnige und illiberale Staatschefs wie den in Putin vernarrten ungarischen Premierminister Viktor Orbán in die Schranken zu weisen.
Außerdem sollte die Aussicht, dass Amerikas neuer Präsident von Putins Gnaden abhängig ist, den Amerikanern durchaus Anlass zur Sorge sein. Und die Politik des Westens gegenüber Russland – Wirtschaftssanktionen oder Militärmanöver in angrenzenden Ländern wie Polen – sind nicht unbedingt falsch. Falsch ist vielmehr, dass diese Sorgen und politischen Strategien größtenteils von Zorn auf Putins Nationalismus geleitet sind, anstatt von sorgfältiger Berücksichtigung des diplomatischen und strategischen Umfelds.
Wenn die USA es nun zulassen, sich in Misstrauen und Spekulationen über die russische Einmischung in die jüngsten Wahlen zu ergehen, werden sie sich höchstwahrscheinlich bald in einer noch destruktiveren Konfrontation mit Putin wiederfinden. Stattdessen sollte Amerika gegenüber Russland einen soliden, wohlüberlegten und maßvollen Ansatz konzipieren – der Werte nicht als Propaganda anspricht, sondern als Grundlage einer klareren und glaubwürdigeren Außenpolitik.
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Many countries’ recent experiences show that boosting manufacturing employment is like chasing a fast-receding target. Automation and skill-biased technology have made it extremely unlikely that manufacturing can be the labor-absorbing activity it once was, which means that the future of “good jobs” must be created in services.
shows why policies to boost employment in the twenty-first century ultimately must focus on services.
Minxin Pei
doubts China’s government is willing to do what is needed to restore growth, describes the low-tech approaches taken by the country’s vast security apparatus, considers the Chinese social-credit system’s repressive potential, and more.
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NEW YORK – Es widerstrebt mir, Wladimir Putin beizupflichten, auch in nur begrenztem Ausmaß. Der russische Präsident lenkt sein Land – das Land meiner Geburt – nach rückwärts und argumentiert fälschlicherweise, dass die Verletzung des Völkerrechts irgendwie gut für die Russen sei. Doch die hysterische Reaktion der Amerikaner auf die angeblichen Bestrebungen des Kreml, die Präsidentenwahlen in den USA zu beeinflussen, hat mich gezwungen, die Dinge aus der Perspektive Putins zu betrachten.
Freilich sind die Behauptungen der US-Geheimdienste, wonach Russland Falschmeldungen in Umlauf brachte und gehackte E-Mails veröffentlichte, um Hillary Clintons Chancen gegen Donald Trump zu verringern, nicht unbegründet. Es entspricht sicher Putins Charakter, auf krummen Wegen hinter Geheimnisse zu kommen und Desinformationen in die Welt zu setzen; er war schließlich KGB-Agent.
Ebenso klingen auch die – bislang allerdings unbestätigten - Anschuldigungen, wonach Putin über ein Dossier mit kompromittierendem Material über Trump verfügt, durchaus glaubhaft. Es ergäbe für Russland wenig Sinn, ausgerechnet Trump aus den Ränkespielen auszunehmen. Aber auch jenseits des Themas Trump müsste den Spitzen der Republikanischen Partei bewusst sein, dass Russland, wenn es die Demokraten hackte, auch die Server der eigenen Partei ausspähte.
Selbst wenn die angeblich sensationellen Details des Dossiers nicht genau stimmen, befindet sich Russland aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest im Besitz einiger kompromittierender Geschäftsunterlagen oder sogar von Trumps Steuerklärungen – Informationen also, die Trump unter größtmöglichem Einsatz vor der amerikanischen Öffentlichkeit zu verbergen trachtete. Wenn sich Trump nun nicht benimmt, und sich in Fragen von der NATO bis zur Ukraine nicht auf Russlands Seite schlägt, wird er seine Geheimnisse wohl gelüftet sehen, so wie dies auch bei Clinton der Fall war.
Die Reaktion der USA auf diese Aussichten war extrem. Die überzeugten Trump-Anhänger sind hinsichtlich der brüchigen Männerfreundschaft zwischen Trump und Putin bereit, Nachsicht walten zu lassen - trotz des offenkundigen Risikos, dass diese Beziehung von beiden Seiten ausgenutzt werden könnte. Andere, darunter einige hochrangige Republikaner, zitieren den jüngst veröffentlichten US-Geheimdienstbericht über Russlands vermutete Einmischung in die Wahlen und verlangen harte Maßnahmen gegen Putins Regierung, auch wenn ein neuer Kalter Krieg eindeutig in niemandes Interesse liegt.
Meiner Ansicht nach war der Geheimdienstbericht prinzipiell problematisch. Er strotzt vor Spekulationen und Verzerrungen und beruht auf dem Argument, dass Putin ein Feind sein muss, weil er die Werte des Westens nicht teilt. Aber wie könnte er das auch? Russland war in der Weltordnung des Westens nie ganz willkommen und noch viel weniger in der Lage, auf Augenhöhe daran teilzuhaben. Aus diesem Grund hat Putin versucht, seine eigene internationale Ordnung zu schaffen.
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Tatsächlich wollte Putin in der ersten Zeit seiner Präsidentschaft Russland als Teil Europas sehen. Doch er wurde umgehend mit der Erweiterung der NATO in die baltischen Staaten konfrontiert. Im Jahr 2006 kündigte die Administration des damaligen US-Präsidenten George W. Bush ihre Pläne zum Bau eines Raketenabwehrschilds in Osteuropa an, um die westlichen Verbündeten vor Interkontinentalraketen aus dem Iran zu schützen. Russland betrachtete diesen Plan – den Präsident Barack Obama letztes Jahr durchzog – als direkte Bedrohung und als Zeichen, dass Rufe nach engeren Verbindungen mit Vorsicht zu genießen sind.
Die USA unterstützen Anti-Putin-Kräfte seit 2008, intensivierten diese Unterstützung aber im Jahr 2011, als Putin, damals Premierminister, sich auf die Rückkehr in das Präsidentenamt vorbereitete. Im Jahr 2013 begrüßten die USA die Proteste in der Ukraine, die zum Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch führten. Janukowitsch war zweifellos ein Ganove, aber die USA unterstützen viele Ganoven. Ihre Bestrebungen, Russland oder anderen Mächten, das Recht auf ähnlich widerliche Lakaien vorzuenthalten, sind reine Heuchelei.
Von derartiger Doppelmoral ist die amerikanische Außenpolitik durchdrungen. Bushs Krieg im Irak wurde auf Grundlage tendenziöser Geheimdienstinformationen erklärt. Obama seinerseits unterstützte die Aufstände des Arabischen Frühlings, bot allerdings keine demokratiefördernden Strategien an – ein Ansatz, der aus Libyen einen gescheiterten Staat machte, der die diktatorischen Züge in Ägypten verstärkte und Syrien in einen albtraumhaften und langwierigen Konflikt stürzen ließ. Unterdessen spionierte die amerikanische National Security Agency alles und jeden aus – ob Freund oder Feind.
Im US-Geheimdienstbericht wird behauptet, Putin sei bestrebt, die liberale Demokratie zu untergraben. Klar scheint allerdings, dass sein vorrangigeres Ziel darin besteht, die Doppelmoral des Westens zu entlarven und damit die ihm vom Westen in den Weg gelegten Hindernisse hinsichtlich der Verfolgung russischer Interessen zu beseitigen. Wenn sich die USA so aufführen können, ohne sich zu entschuldigen, so Putins Denkweise, stellt sich die Frage, warum Russland seine Einflusssphäre, beispielsweise in der Ukraine, verwehrt werden solle.
Und warum hätte Putin auch nicht versuchen sollen, Trump auszuhelfen? Die Ukrainer machten sich im Wahlkampf für Clinton stark, weil sie glaubten, sie würde sich für deren Interessen einsetzen. Es ist vollkommen nachvollziehbar, dass Putin Trump unterstützte, der wiederholt seine Bewunderung für dessen Amtsführung ausdrückte, und nicht Clinton, die ihn mit Adolf Hitler verglichen hatte. Bei der Vorstellung, Putin sollte keine Maßnahmen zum Schutz seiner Interessen ergreifen, handelt es sich um eine als Objektivität getarnte ideologische Parteilichkeit, die auch Putins Behauptungen, der Westen sei hinter ihm her, glaubwürdig erscheinen lässt.
Verstehen Sie mich nicht falsch: trotz aller Unzulänglichkeiten bleiben die USA eine positive Kraft auf dieser Welt. Sie sind vielleicht die einzige positive Kraft neben der Europäischen Union, die mit ihrem Gezänk aufhören sollte und damit beginnen, größenwahnsinnige und illiberale Staatschefs wie den in Putin vernarrten ungarischen Premierminister Viktor Orbán in die Schranken zu weisen.
Außerdem sollte die Aussicht, dass Amerikas neuer Präsident von Putins Gnaden abhängig ist, den Amerikanern durchaus Anlass zur Sorge sein. Und die Politik des Westens gegenüber Russland – Wirtschaftssanktionen oder Militärmanöver in angrenzenden Ländern wie Polen – sind nicht unbedingt falsch. Falsch ist vielmehr, dass diese Sorgen und politischen Strategien größtenteils von Zorn auf Putins Nationalismus geleitet sind, anstatt von sorgfältiger Berücksichtigung des diplomatischen und strategischen Umfelds.
Wenn die USA es nun zulassen, sich in Misstrauen und Spekulationen über die russische Einmischung in die jüngsten Wahlen zu ergehen, werden sie sich höchstwahrscheinlich bald in einer noch destruktiveren Konfrontation mit Putin wiederfinden. Stattdessen sollte Amerika gegenüber Russland einen soliden, wohlüberlegten und maßvollen Ansatz konzipieren – der Werte nicht als Propaganda anspricht, sondern als Grundlage einer klareren und glaubwürdigeren Außenpolitik.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier