Keine Krankheit für alte Menschen

PRINCETON –  Die Lungenentzündung wurde früher als „Freund des alten Mannes“ bezeichnet, weil sie in vielen Fällen ein Leben, das bereits von geringer Lebensqualität und fortschreitendem Verfall geprägt war, vergleichsweise rasch und schmerzlos beendete. Nun zeigt eine an schwer dementen Patienten in Pflegeheimen im Raum Boston durchgeführte Studie, dass dieser „Freund“ heute oft mit Antibiotika bekämpft wird. Aufgrund derartiger Praktiken erhebt sich die offenkundige Frage: Behandeln wir Krankheiten routinemäßig, weil wir dazu in der Lage sind oder weil wir uns dazu verpflichtet fühlen? 

Die von Erika D’Agata und Susan Mitchell durchgeführte und jüngst in den Archives of Internal Medicine veröffentlichte Studie zeigt, dass zwei Drittel der 214 schwer dementen Patienten mit Antibiotika behandelt wurden. Das Durchschnittsalter der Patienten betrug 85 Jahre. Beim Test über schwere Beeinträchtigungen, wo zwischen 0 und 24 Punkte erreicht werden können, wiesen zwei Drittel der Patienten null Punkte auf. Ihre verbale Kommunikationsfähigkeit wurde von nicht vorhanden bis minimal eingestuft.

Es ist nicht klar, dass die Anwendung von Antibiotika unter diesen Umständen das Leben verlängert, aber selbst wenn es so wäre, müsste man sich fragen, worin der Sinn der Sache liegt. Wie viele Menschen würden für eine Verlängerung ihres Lebens plädieren, wenn sie inkontinent und auf die Nahrungszufuhr durch andere angewiesen wären, nicht gehen könnten und ihre mentalen Fähigkeiten so unwiederbringlich zerstört wären, dass sie weder sprechen noch ihre Kinder erkennen könnten? In vielen Fällen wurden die Antibiotika intravenös verabreicht, was durchaus zu Beschwerden führen kann.

Die Interessen des Patienten sollten an erster Stelle stehen. Wenn es aber zweifelhaft ist, ob eine fortgesetzte Behandlung im Interesse des Patienten liegt oder es unmöglich ist, herauszufinden, was der Patient will oder wollte, ist es durchaus sinnvoll, andere Faktoren einzubeziehen, wie die Meinung der Familie oder die Kosten für die Allgemeinheit. Im Jahr 2005 betrugen die Kosten der öffentlichen amerikanischen Krankenversicherung Medicare für Anspruchsberechtigte mit Alzheimer 91 Milliarden Dollar. Bis 2010 sollen sie auf 160 Milliarden Dollar ansteigen. (Zum Vergleich: Im Jahr 2005 gaben die USA 27 Milliarden Dollar für Auslandshilfe aus.)

Außerdem weisen D’Agata und Mitchell darauf hin, dass die Verabreichung von derart vielen Antibiotika noch einen anderen Preis hat: Dadurch verschärft sich nämlich das Problem der Antibiotika resistenten Bakterien, wodurch wiederum andere Patienten gefährdet werden.

Bei dem 84-jährigen Patienten Samuel Golubchuk aus Winnipeg in Kanada, dessen physische und geistige Kapazitäten infolge einer Gehirnverletzung seit Jahren eingeschränkt sind, konnte die Lungenentzündung ihre erlösende Rolle nicht spielen. Golubchuks Ärzte waren der Meinung, es wäre das Beste, sein Leben nicht künstlich zu verlängern. Die Kinder Golubchuks allerdings argumentierten, dass eine Unterbrechung der lebenserhaltenden Maßnahmen gegen jüdisch orthodoxe Glaubensregeln verstoßen würde. Sie erwirkten einen Gerichtsbeschluss, der die Ärzte verpflichtete, ihren Vater am Leben zu erhalten.  

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In den letzten drei Monaten lebte Golubchuk mit einer Kanüle, die ihm das Atmen erleichterte und mit einer Magensonde, um ihm Nahrung zuzuführen. Er kann nicht sprechen und ist ans Bett gefesselt. Wie viel er von seiner Situation mitbekommt, ist umstritten. Sein Fall kommt nun vor Gericht und wie lange das Verfahren dauert, ist ungewiss.

Wenn Patienten nicht in der Lage sind, Entscheidungen hinsichtlich ihrer Behandlung selbst zu treffen, sollte den Wünschen der Angehörigen große Bedeutung beigemessen werden. Aber die Wünsche der Angehörigen sollten die ethische Verantwortung eines Arztes, im besten Interesse seines Patienten zu handeln, nicht außer Kraft setzen.

Golubchuks Kinder bekunden, dass ihr Vater mit ihnen kommuniziert. Aber die Feststellung der Tatsache, dass er bei Bewusstsein ist, könnte sich als zweischneidiges Schwert erweisen, weil es auch bedeuten könnte, dass die lebenserhaltenden Maßnahmen eine sinnlose Tortur sind, und es in seinem besten Interesse liegt, in Frieden sterben zu dürfen.

Die andere wichtige Frage, die sich im Zusammenhang mit Golubchuks Fall erhebt, ist, inwieweit ein öffentlich finanziertes Gesundheitssystem wie jenes in Kanada verpflichtet ist, den Wünschen der Angehörigen von Patienten nachzukommen. Wenn die Familie eine Behandlung anstrebt, die nach dem professionellen Urteil der Ärzte nicht im Interesse des Patienten liegt, sollte die Antwort lauten: Diese Verpflichtung ist nicht sehr weitreichend.

Wenn Golubchuks Kinder das Gericht überzeugen können, dass ihr Vater nicht leidet, könnte das Gericht das Krankenhaus anweisen, den Vater in die Obhut seiner Kinder zu übergeben.  Dann können sie auf eigene Kosten entscheiden, welcher weiteren Behandlung ihr Vater unterzogen werden soll. Das Gericht sollte jedoch nicht das Krankenhaus verpflichten, Golubchuk entgegen der Beurteilung der Ärzte weiter zu betreuen. Die kanadischen Steuerzahler sind nicht verpflichtet, die religiösen Ansichten ihrer Mitbürger finanziell zu unterstützen.

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