acemoglu48_Ritesh ShuklaGetty Images_modirally Ritesh Shukla/Getty Images

Den neuen Nationalismus verstehen

CAMBRIDGE – Die Euphorie nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 bezog sich nicht nur auf das, was Francis Fukuyama einen „unerschütterlichen Sieg des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus“ nannte. Es ging auch um den Niedergang des Nationalismus. Mit der immer stärker zusammenwachsenden Weltwirtschaft ging man davon aus, dass die Menschen ihre nationalen Identitäten hinter sich lassen würden. Das Projekt der europäischen Integration – das von gut ausgebildeten, aufstrebenden jungen Menschen mit Begeisterung angenommen wurde – war nicht nur supranational, sondern auch postnational.

Doch der Nationalismus ist zurück, und er spielt eine zentrale Rolle in der Weltpolitik. Der Trend beschränkt sich nicht auf die Vereinigten Staaten oder Frankreich, wo der ehemalige Präsident Donald Trump bzw. die rechtsextreme Marine Le Pen neue nationalistische Koalitionen anführen. Der Nationalismus treibt auch populistische Bewegungen in Ungarn, Indien, der Türkei und vielen anderen Ländern an. China hat sich einen neuen nationalistischen Autoritarismus zu eigen gemacht, und Russland hat einen nationalistischen Krieg mit dem Ziel der Auslöschung der ukrainischen Nation begonnen.

Es gibt mindestens drei Faktoren, die den neuen Nationalismus schüren. Erstens gibt es in vielen der betroffenen Länder historisch bedingte Missstände. Indien wurde von den Briten während des Kolonialismus systematisch ausgebeutet, und das chinesische Reich wurde während der Opiumkriege im 19. Jahrhundert geschwächt, gedemütigt und unterworfen. Der moderne türkische Nationalismus wird durch die Erinnerung an die westliche Besatzung großer Teile des Landes nach dem Ersten Weltkrieg belebt.

https://prosyn.org/UYyEiYkde