Eine holländische Kur für die Holländische Krankheit

STANFORD – Viel zu wenige Regierungen zügeln die aufgeblähten Wohlfahrtsstaaten ihrer Länder bevor es zur Katastrophe kommt. Infolgedessen erleiden einige Bürger schließlich das ökonomische Äquivalent eines Herzanfalls: Eine qualvolle Verschlechterung des Lebensstandards, während sie zum Opfer nicht tragfähiger Programme werden, die in den letzten Zügen liegen. Griechenland und die Stadt Detroit sind lediglich die jüngsten düsteren Beispiele.

Viele weitere leiden unter dem spärlichen Wachstum und kaum steigenden Einkommen, die das Ergebnis der fatalen Kombination aus zügelloser Haushaltspolitik, bürokratischen Hindernissen und zerstörerischer Besteuerung sind. Weite Teile Europas lassen sich dieser Kategorie der wirtschaftlichen Stagnation zuordnen.

Gelegentlich gelingt es Regierungen allerdings, die Weichen für einen erfolgreichen Rückzug aus dem versagenden Wohlfahrtsstaat zu stellen. Kanada hat die öffentlichen Ausgaben in den 1990er-Jahren um über 8% des BIP gesenkt und die Vereinigten Staaten haben die nicht-militärischen Ausgaben Mitte der 1980er-Jahre um 5% des BIP reduziert – eine Entwicklung, die von Mitte-Rechts- genau wie von Mitte-Links-Regierungen mitgetragen wurde.

Aus diesem Grund ist es bemerkenswert, wenn ein europäisches Land eine Kursänderung vornimmt, um die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu verringern und wieder Arbeitsanreize zu schaffen – vor allem, wenn es sich dabei um die Niederlande handelt, die in den 1960er- und 1970er-Jahren einen der umfassendsten Wohlfahrtsstaaten weltweit errichtet haben.

Bei seiner ersten Thronrede vor dem Parlament hat der niederländische König Willem-Alexander unlängst erklärt: „Unser Arbeitsmarkt und unsere Sozialsysteme erfüllen nicht mehr in vollem Umfang die Anforderungen dieser Zeit….Der klassische Versorgungsstaat verwandelt sich langsam, aber sicher in eine Teilhabegesellschaft.“

Diese Erklärung steht für einen wirklich bemerkenswerten Wandel. Von den 1960er- und 1970er-Jahren an, haben Beobachter der Niederlande häufig die „Holländische Krankheit“ beklagt. Es gab so viele großzügige Subventionen, Stipendien und Transferleistungen – die sich an alle wendeten, angefangen bei wirklich Bedürftigen über Künstler, die ihre Werke nicht verkaufen konnten –, dass Nettoeinkommen oftmals kaum höher waren als Sozialleistungen. Also kehrten Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz verloren oder gekündigt hatten, nur selten auf den Arbeitsmarkt zurück oder wenn, dann in die Schattenwirtschaft mit ihren unversteuerten Schwarzgeldern.

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Gleichgültig, ob man den niederländischen Sozialstaat als human und großzügig oder aufgebläht und töricht betrachtet, hat seine Freigebigkeit der Wirtschaft stark zugesetzt. Doch anders als etwa die Franzosen haben die Holländer mit einer Reihe von politischen Maßnahmen auf ihre früheren Exzesse reagiert, die eine Rückkehr auf den formellen Arbeitsmarkt fördern sollen. Tatsächlich haben sie zu Ehren ihrer innovativen Reformen, denen Regierungen weltweit im Interesse eines zielgerichteten, effektiven und bezahlbaren Sicherheitsnetzes nacheifern könnten, ein orangefarbenes Feuerwerk verdient.

So sind staatliche Invalidenrenten in vielen Ländern zu einem riesigen, immer akuter werdenden Problem geworden, obwohl der Anteil der Beschäftigten in körperlich belastenden und gefährlichen Berufen wie im Baugewerbe und in der Fertigung stark gesunken ist. Um dem drastischen Anstieg der Leistungen ihrer Arbeitsunfähigkeitsversicherung entgegenzuwirken, verlangen die Niederländer von Firmen, in denen viele Beschäftigte solche Leistungen beanspruchen, jetzt eine höhere Beteiligung an der Arbeitsunfähigkeitsversicherung und schaffen damit einen starken Anreiz, für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu sorgen.

Doch die Verringerung der Erwerbsausfallansprüche (und somit Zahlungen) ist nur die eine Hälfte der Gleichung. Die andere Hälfte besteht darin, diejenigen die dazu in der Lage sind, wieder in die Erwerbstätigkeit zurückkehren zu lassen. (In Amerika kehren weniger als 1% der Arbeitsunfähigen wieder ins Erwerbsleben zurück.) Frühzeitiges Eingreifen und Informationskampagnen über die Optionen einer Rückkehr auf den Arbeitsmarkt sind vielversprechende Möglichkeiten. Viele Untersuchungen zeigen, dass sich berufliche Qualifikationen umso mehr verschlechtern, je länger die Abwesenheit vom Arbeitsplatz andauert; Umschulung, Information und Wiedereinstiegsprogrammen kommt also eine große Bedeutung zu.

Ganz ähnlich wie sich die Vereinigten Staaten 1996 unter einem demokratischen Präsidenten, Bill Clinton, und einem republikanischen Kongress über zeitliche Begrenzungen sowie Anforderungen an Arbeit und Ausbildung verständigt haben, gehen die Niederländer die Reform des Sozialsystems an. Das hat zur Folge, dass Unterstützungsempfänger des niederländischen Sozialsystems jetzt aufgefordert sind, Nachweise über eine aktive Stellensuche vorzulegen, bevor sie Anspruch auf Leistungen erheben können; während des Leistungsbezuges Arbeiten verrichten oder freiwillige gemeinnützige Arbeit leisten und ein Beschäftigungsangebot auch dann annehmen müssen, wenn lange Anfahrtswege zurückzulegen sind.

Amerikas Reform der Sozialhilfe von 1996 ist aus Initiativen des US-Bundesstaates Wisconsin hervorgegangen. Und genau wie sich die Reformen in Wisconsin als Modell erwiesen haben, das erfolgreich auf nationaler Ebene eingeführt werden konnte, könnten Reformen in einem Land der Europäischen Union politische Neuerungen anderswo in der EU und auf aller Welt voranbringen. Und ansteckende erfolgreiche politische Reformen sind genau das, was Europa und weite Teile der Welt brauchen.

Um zu verstehen warum, muss man den Steuersatz betrachten, der für die Finanzierung der Sozialleistungen notwendig ist, der der Lohnersatzquote (das durchschnittliche Niveau der Sozialleistungen im Verhältnis zum Einkommen der Steuerzahler) multipliziert mit dem Abhängigkeitsquotienten (dem Anteil der Bevölkerung, die Ersatzleistungen erhält) entspricht. Je höher die Lohnersatzleistungen und/oder der Abhängigkeitsquotient, desto höher der Steuersatz, der notwendig ist, um die Leistungen zu finanzieren.

Dabei ist absolut sicher, dass der Abhängigkeitsquotient aufgrund von nicht aufzuhaltenden demografischen Trends praktisch überall steigen wird. Die Kombination aus höherer Lebenserwartung, sinkenden Geburtenraten und der in einigen Ländern (einschließlich der USA) bevorstehenden Pensionierung der Babyboom-Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, bedeutet einen raschen Anstieg des Altersabhängigkeitsquotienten.

So wird sich etwa in den USA das Verhältnis von Rentnern zu Arbeitnehmern von gegenwärtig eins zu drei in den kommenden dreißig Jahren zu 1:2 verändern. In Italien und Deutschland wird das Verhältnis 1:1 sein. Und der Anteil der chinesischen Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren wird in einer Generation von heute höher sein als in den USA.

Am gesunden Menschenverstand orientierte politische Reformen, die um ihrer selbst willen verabschiedet werden sollten, so wie die niederländischen Berufsunfähigkeits- und Sozialreformen, werden eine zweite Dividende mit sich bringen, indem sie den Abhängigkeitsquotienten verringern. Das wird nicht ausreichen, um für immer solide öffentliche Finanzen zu wahren. Doch indem die Niederlande zeigen, wie die „Holländische Krankheit“ kuriert werden kann, erteilen sie uns allen eine unschätzbar wertvolle Lektion.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

https://prosyn.org/cAgxg1Pde