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Wie man wirklich wieder die Kontrolle übernimmt

CHICAGO – Großbritannien taumelt auf den Brexit zu. Keiner weiß, was im Laufe der nächsten Monate passieren wird. Doch unterstützt rund ein Drittel der britischen Wähler einen „vertragslosen“ Austritt aus der Europäischen Union, der die Gefahr einer wirtschaftlichen Katastrophe für das Land birgt.

Viele Befürworter dieses „harten“ Brexit sind älter, nur mäßig gebildet und leben in wirtschaftlich schwachen semiurbanen Dörfern und Kleinstädten, die tendenziell im Norden Englands konzentriert sind. Obwohl sie besorgt sind über die stetige Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Aussichten, legen Untersuchungen nahe, dass der Handel oder selbst die Einwanderung nicht ihre einzigen Anliegen sind. Übel nehmen die Brexitanhänger auch ihren Kontrollverlust über politische Entscheidungen – zunächst an eine weit entfernte nationale Hauptstadt voller gebildeter globaler Eliten und dann, in den letzten Jahren, an eine noch weiter entfernte EU.

Die von der EU vorgeschriebenen Einwanderungsregeln sind nur das offensichtlichste Anzeichen ihrer Machtlosigkeit. Die Brexitbefürworter stimmten für den Austritt aus der EU, um „wieder die Kontrolle zu übernehmen“. Leider wird ihnen der Brexit, egal in welcher Form, das Gewünschte womöglich nicht geben, was weitere Ressentiments anheizen dürfte. Lässt sich etwas tun, um ihre Wut zu besänftigen?

Die Entmachtung der Kommunen ist kein allein britisches Phänomen. Mit Ausweitung der Märkte über die politischen Grenzen hinweg bevorzugen die Marktteilnehmer eine gemeinsame Regierungsstruktur, die nervige Regulierungsunterschiede und Transaktionskosten beseitigt. Historisch betrachtet ereignete sich eine derartige Integration innerhalb der Landesgrenzen: Mit Zunahme interregionaler Handels- und Kapitalströme wurden die Rufe nach nahtlosen regionalen Grenzen und harmonisierten nationalen Regeln lauter; die nationalen Regierungen steigerten daher ihre Befugnisse und Funktionen auf Kosten der Regionen und Kommunen.

Als sich in den letzten Jahrzehnten die Globalisierung beschleunigte, traten die nationalen Regierungen ihrerseits internationalen Übereinkommen und völkerrechtlichen Verträgen bei, die ihre souveräne Macht begrenzten. Zudem gaben sie gewisse Befugnisse an internationale Einrichtungen ab. So begrenzt etwa die EU-weite Harmonisierung der Wirtschaftsregeln durch die Europäische Kommission EU das regulatorische Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten. Dies hat Bewegungen wie die der Brexitanhänger ausgelöst, die danach streben, sich die nationale Souveränität zurückzuholen.

Doch selbst angesichts der Verschiebung von Macht (und häufig Finanzkraft) von der lokalen auf die nationale und dann die internationale Ebene unterscheiden sich die Auswirkungen der globalisierten Märkte und des technologischen Wandels deutlich. Besonders auffällig ist, dass die Großstädte florieren, während die eher ländlichen Gemeinwesen einen Rückgang von Wirtschaftsaktivität und Chancen erlebten. Die Große Rezession, die 2008 begann, akzentuierte diesen Trend; die Städte erholten sich rasch, während die eher ländlichen Gebiete dahinwelkten. Derart ungleichmäßige Auswirkungen erfordern den örtlichen Bedürfnissen und Umständen angemessene Antworten. Doch ist die Formulierung derartiger Antworten sehr viel schwieriger, wenn die Kommunen entmachtet wurden.

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Diese Machtlosigkeit verursacht weitere Kollateralschäden. Wenn in wirtschaftlichen Randgebieten die Chancen schwinden, machen sich in der Regel Verzweiflung und gesellschaftliche Dysfunktionalität breit. Die Zahl der zerbrochenen Familien steigt, und dasselbe gilt für Drogenkonsum und Verbrechensraten. Wer kann, zieht weg. Die Kommunen entwickeln sich dann von einer Quelle des Stolzes und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu einem Reservoir gemeinsamen Kummers, wenn nicht gar der Scham. Und ihre Mitglieder suchen nach alternativen Quellen von Identität und sozialer Solidarität, einschließlich des Nationalismus.

Populistische nationalistische Führer versprechen, ihr Land „wieder groß zu machen“, indem sie es von den ihm durch internationale Übereinkommen und Organisationen auferlegten Beschränkungen befreien. Natürlich sind derartige Politiker dann nach der Rückführung der Macht aus der internationalen Arena versucht, sich einer weiteren Regionalisierung dieser Macht und Finanzkraft an die Regionen und Kommunen zu widersetzen. Stattdessen könnten sich die populistischen Nationalisten auf gefährlichere Weise gegen das internationale System wenden, indem sie ihren Unterstützern eine fortlaufende Parade äußerer Bösewichte präsentieren, denen sie die Schuld für ihre Not geben. Dies ist ein Weg, der zu nichts Gutem führt.

Natürlich gibt es zahlreiche andere Arten des Nationalismus; zum Beispiel wollen viele Brexitbefürworter, dass Großbritannien für den Handel offen bleibt, aber zugleich die Einwanderung deutlich beschränkt. Doch wenn sich das Wachstum verlangsamt und ihre Bevölkerungen altern, brauchen die entwickelten Länder sowohl Exportmärkte als auch eine gewisse Einwanderung – Erstere, um die Nachfrage zu unterstützen, und Letztere, um die Renten und Krankenversorgung der alternden Bevölkerungen zu bezahlen. Eine Balkanisierung der Welt durch Errichtung von Grenzzäunen ist eine sichere Methode, den ungleich verteilten Reichtum von heute in die kollektive Armut von morgen zu verwandeln.

Die Nationalisten haben jedoch Recht, dass wir bei der Standardisierung und Harmonisierung der Gesetze und Vorschriften zwischen den einzelnen Ländern zu weit gegangen sind. In einem Zeitalter künstlicher Intelligenz können Unternehmen und Händler doch wohl gewisse nationale Regulierungsunterschiede bewältigen. Wäre es da nicht möglich, gewisse Befugnisse auf die Landesebene zurückzuführen, sofern die Weltmärkte offen bleiben? Warum müssen ungewählte Technokraten weit weg hinter verschlossenen Türen die Regeln bestimmen? Die Globalisierung der Regierungsführung könnte ein Schritt zu weit sein, auch was das Wohl der Globalisierung selbst angeht.

Doch die Brexitbefürworter sollten aufmerken: Die Regionalisierung der Macht wird nicht auf der nationalen Ebene enden – das Murren in Schottland und Wales zeigt es. Die im Niedergang begriffenen Kommunen brauchen dringend neue Wirtschaftsaktivitäten, und ihre Mitglieder müssen, was Globalisierung und technologischen Wandel angeht, anpassungsfähiger werden. Dies erfordert häufig lokales Engagement und örtliche Lösungen, ggf. mit Unterstützung der nationalen Regierungen. Die politischen Parteien könnten eine konstruktive Rolle bei der Wiederherstellung der Befugnisse, Finanzkraft und häufig auch Gesundheit vieler Kommunen spielen.

Die Wiederherstellung eines starken Gefühls positiver Gemeinschaftsidentität würde dem feindseligen Nationalismus vermutlich etwas von seiner Attraktivität nehmen. Zumindest sind Menschen, die stärker in der Lage sind, ihre Zukunft selbst zu gestalten, nicht so leicht davon überzeugt, dass andere für ihr Leid die Schuld tragen. In dem Maß, in dem sie die Unterstützung für den virulenten Nationalismus schwächt, könnte die Regionalisierung die Welt ein bisschen wohlhabender machen – und sehr viel sicherer.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/70q1JKcde