Die chinesische Herausforderung

Vor fünfunddreißig Jahren behauptete Jean-Jacques-Servan-Schreiber in seinem Buch "Le Défi Americain" (Die Amerikanische Herausforderung), Europa drohe, eine Filiale der amerikanischen multinationalen Konzerne zu werden. Ein Jahrzehnt später schien Japans steigende wirtschaftliche Herausforderung alle anderen zu überragen. Jetzt macht China die Leute nervös. Aber heute dürfte die Reaktion auf Chinas wirtschaftliche Herausforderung genau so fehlgeleitet sein wie gestern diejenige auf die amerikanische Herausforderung.

Dem China des Jahres 2002 ähnelt nichts so sehr wie das Japan der 1960er Jahre, als es sich anschickte, als globaler Wettbewerber aufzutreten und dabei Anklänge an das England eines Dickens und an das Amerika der "Räuber-Barone" der späten 1800er Jahre erkennen ließ. Damals begannen die USA zur wirtschaftlichen Weltmacht aufzusteigen. Ohne Beispiel ist, dass so etwas Ähnliches sich in einem kommunistischen Land oder in einem mit einer so gewaltigen Bevölkerung zutragen soll.

Symbol für das neue China ist ein Werk für Elektronikkomponenten in Shenzhen im Delta des Perlen-Fluss (Zhu Jiang). Als ich es besichtigte, beschäftigte die Fabrik 10,000 Arbeiter; jeder verdiente etwa $ 80 im Monat. Es waren alles nur junge Frauen. Keine trug eine Brille. "Haben Sie keine Angestellte mit schlechtem Sehvermögen?", fragte ich. Der Manager entgegnete "Wir entlassen sie, wenn ihre Augen schlecht werden. Sie können dann andere Arbeit finden - das ist dann nicht mein Problem." Tatsächlich kehrten die Entlassenen im Allgemeinen nicht in ihr bäuerliches Leben zurück, sondern wurden Unternehmerinnen in den Dienstleistungsbetrieben der neu entstandenen Städte Chinas.

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