Geplatzte Illusionen

BERLIN – Lange, viel zu lange ist der Westen Illusionen über Putins Russland hinterher gerannt, und diese Illusionen sind jetzt auf der Krim geplatzt. Dabei hätte man es schon seit langem besser wissen können, ja müssen. Denn Wladimir Putin verfolgt seit seiner ersten Amtszeit als russischer Präsident die Wiedererlangung des Weltmachtstatus für Russland als sein strategisches Ziel. Dazu benutzte er die Energieexporte, um die mit dem Ende der Sowjetunion verloren gegangenen Gebiete langsam zurückzuholen. Im Zentrum dieser langfristigen Strategie stand und steht die Ukraine, denn ohne diese ist sein Ziel nicht zu erreichen. Es geht also keineswegs nur um die Krim. Das nächste Ziel heißt Ostukraine und anhaltende Destabilisierung der gesamten Ukraine. Denn nichts fürchtet die neue Autokratie in Moskau mehr als eine erfolgreiche Modernisierung einer demokratischen Ukraine.

Vor unseren Augen vollzieht sich der Umsturz der postsowjetischen Staatenordnung in Osteuropa, am Kaukasus und in Zentralasien. Großmachtpolitik, militärische Eroberungen, Einflusszonen und ein Denken in den machtpolitischen Nullsummenspielen des 19. Jahrhunderts drohen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Herrschaft des Rechts und demokratische Grundprinzipien abzulösen. Dieser Umsturz wird massive Auswirkungen auf Europa und die europäisch-russischen Beziehungen haben, denn er wird darüber entscheiden, nach welchen Regeln die Staaten und Völker auf dem europäischen Kontinent in Zukunft leben werden: nach denen des 19. oder des 21. Jahrhunderts?

Wer meint, sich dieser Entwicklung anpassen zu können, wie die Putin-Versteher im Westen, der wird dadurch das genaue Gegenteil erreichen und tatsächlich zu einer Eskalation der Krise beitragen, denn Sanftheit wird in Moskau als Schwäche und demnach Ermutigung begriffen.

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