Ist Freiheit allein genug?

Brauchen Demokratien Werte? Die Frage erscheint absurd angesichts der Fotos amerikanischer Soldaten, die irakische Gefangene foltern und erniedrigen. Tatsache ist jedoch, dass der Vormarsch der Demokratie historisch betrachtet die Aushöhlung gemeinsamer Werte und eine zunehmende Autonomie des Individuums mit sich gebracht hat. Demokratie setzt moralischen Agnostizismus und die Vielfalt von Sinnbegriffen voraus, von denen keiner allen heilig oder für alle verpflichtend ist.

Zwar nährt die Demokratie einige gemeinsame Werte, doch handelt es sich dabei überwiegend um liberale Werte. Mit anderen Worten: Die Rechte des Einzelnen gehen kollektiven Pflichten vor. Die Demokraten unserer Zeit betrachten den größtmöglichen Respekt für die Autonomie des Individuums - in den Worten Thomas Jeffersons - als „selbstverständliches" Recht. Aber sind politische, Bürger- und Menschenrechte genug, um die Stärke und das Überleben der Demokratien zu gewährleisten? Sind unsere heutigen Demokratien tugendhaft genug, um jene Energien einschließlich der Selbstaufopferung freizusetzen, die sie brauchen, um ihre Feinde zu besiegen?

Solche Fragen waren in der Vergangenheit weniger wichtig, u.a. deshalb, weil grundlegende demokratische Werte weniger abstrakt waren, als sie es heute zu sein scheinen. Sie belebten den Kampf gegen nationalsozialistischen und sowjetischen Totalitarismus, Faschismus und Militärdiktatur; in ihrem Namen wurde das Ende der Kolonialisierung erreicht und Minderheiten erhielten Gleichberechtigung und Würde. Die Werte der Demokratie mögen einseitig die Rechte des Einzelnen betonen, aber dies ist es auch, was ihnen universale Gültigkeit verschafft und den Kampf gegen Unterdrückung - ganz gleich, wo er sich abspielt - legitimiert.

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