Die Entwicklung unseres Gesundheitswesens

Eine der wichtigsten Forschungsanstrengungen im Bereich des Gesundheitswesens im Verlauf des kommenden Jahrzehnts wird darin bestehen, die in der Biologie, den Materialwissenschaften, der Chemie und der Biotechnologie erzielten Fortschritte zu integrieren und eine revolutionäre neue Generation von medizinischen Geräten und Systemen zur Medikamentabgabe zu entwickeln. Tatsächlich besteht die Hauptschwierigkeit, vor der Forscher in diesen unterschiedlichen Feldern heute stehen, möglicherweise nicht in fehlendem wissenschaftlichen Fortschritt, sondern vielmehr in einem Mangel an adäquater interdisziplinärer Ausbildung.

Ein Schlüsselbereich für Forschungsmaßnahmen wird die Zell- und Gewebetechnik sein. Bei dieser geht es allgemein gesagt darum, die Zellen von Säugetieren (inkl. der Stammzellen) mit Polymermaterialien zu verknüpfen, um Neugewebe bzw. -organe herzustellen. Laut aktuellen Schätzungen lässt sich fast die Hälfte der im Gesundheitswesen anfallenden Kosten auf Gewebeverluste oder das Versagen von Körperorganen zurückführen. Die Fähigkeit, neue Lebern, Rückenmarkstränge, Herzen, Nieren und viele andere Gewebeformen oder organbasierte Systeme herzustellen, könnte die Krankenhausverweildauer drastisch verringern, Leiden lindern und unser Leben verlängern.

Die Herausforderungen, vor denen wir dabei stehen, sind natürlich enorm. Insbesondere muss eine geeignete Quelle gefunden werden, um schnell genug eine ausreichende Menge differenzierter Zellen produzieren zu können. Stammzellen stellen potenziell eine wichtige Quelle dar; zunächst jedoch müssen die Probleme bei der Steuerung ihrer Differenzierung und ihres Wachstums und bei ihrer Abstoßung durch das menschliche Immunsystem gelöst werden.

Ein weiterer Weg, den wir beschreiten können, betrifft die Entwicklung mikroelektronischer mechanischer Systeme (MEMS), die bei der Verabreichung von Medikamenten zum Einsatz kommen können. Diese Mikrogeräte wären aus Silikon oder anderen Materialien anzufertigen, die mit Medikamenten (oder Sensoren) beladen werden können und mit Kappen aus Gold oder anderen Substanzen abzudecken wären. Ein elektrisches Signal an das Implantat würde die Goldabdeckung lösen, um das Medikament freizusetzen.

Derartige Systeme haben das Potenzial, uns neue Arten von Medikamenten mit komplexen Verabreichungsregimen zu ermöglichen, wie sie etwa in der Chemotherapie bei Krebs nützlich sein könnten. Sie könnten uns außerdem neue Methoden zur lokalisierten Verabreichung von Medikamenten ermöglichen. Dies könnte in einer Reihe von Bereichen nützlich sein, so etwa der koordinierten Verabreichung mehrerer Medikamente. Schließlich könnten derartige Systeme auch neue Einsatzmöglichkeiten auf Computerchips platzierter Biosensoren schaffen.

Auch die Entwicklung neuer Biomaterialien für medizinische Geräte steht in Aussicht. Gegenwärtig handelt es sich bei den meisten Biomaterialien um Standardmaterialien, die zuerst bei Konsumgütern Verwendung fanden. Das Material etwa, aus dem Kunstherzen bestehen, wurde ursprünglich dafür verwendet, Hüfthalter für Frauen anzufertigen. Einige der Materialien, die heute in Brustimplantaten zum Einsatz kommen, wurden ursprünglich als Füllmaterial für Mattratzen verwendet.

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Ein potenziell wichtiger Bereich ist hier die Entwicklung von Materialien, die über ein „Formgedächtnis“ verfügen. Ein denkbares Einsatzbeispiel: Ein Chirurg führt durch ein kleines endoskopisches Loch eine Art Schnur ein; bei einer entsprechenden Stimulierung (z.B. durch Temperatur oder Licht) würde diese sich dann in ein medizinisches Gerät von geeigneter Form verwandeln, etwa einen Stent oder eine Abdeckung, um Verwachsungen zu verhindern. Eine weitere potenzielle Einsatzmöglichkeit derartiger Materialien könnten selbstverknotende Nähte sein, die in der minimal invasiven Chirurgie genutzt werden könnten.

Neue Materialien sind darüber hinaus erforderlich, um eines der Haupthindernisse auf dem Weg zu einer erfolgreichen Gentherapie zu überwinden: das Fehlen geeigneter Abgabesysteme. Ein hoch effizientes Mittel hierfür wären Viren, doch stellen diese ein Sicherheitsrisiko dar. Auch die nicht invasive Abgabe von komplexen Molekülen bleibt eine wichtige Herausforderung. Gegenwärtig werden derartige Moleküle per Injektion verabreicht. Falls es der Wissenschaft jedoch gelingt, bessere Abgabesysteme oder synthetische Wirkstoffe zu entwickeln, die sicherer, preiswerter und leichter herstellbar sind, so ergeben sich hieraus enorme Chancen für komplexe Medikamente, die injektionslos verabreicht werden könnten.

Neue Fortschritte im Bereich der technischen Medizin können helfen, Medikamente an spezifische Zellen – insbesondere Krebszellen – zu leiten, was bisher aus einer Reihe von Gründen extreme Schwierigkeiten bereitet. Eine Herausforderung dabei besteht in der Entwicklung von Mikro- oder Nanopartikeln, die durch die Blutbahn geleitet werden können, ohne von anderen Zellen aufgenommen zu werden. Wenn uns dies gelingt, so könnten eines Tages „magische Kugeln“ zur Bekämpfung von Krebs, Herzerkrankungen und anderen Leiden möglich sein.

All diese potenziellen Veränderungen dürften enorme Auswirkungen auf die Medikamententwicklung und die Diagnostik haben.

Die Entwicklung und Nutzung des gesamten Arsenals potenzieller neuer krankheitsbekämpfender Waffen wird herausragende Wissenschaftler und Techniker erfordern, darunter solche mit interdisziplinärer Ausbildung.

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