Refugees in Lesbos Owen Humphreys/Getty Images

Lesbos’ Geister, Europas Schande

ATHEN – Im Jahr 2015 landeten hunderttausende von Flüchtlingen an den Ufern der griechischen Inseln. Viele starben auf dem Meer. Seitdem wurde die internationale Öffentlichkeit dahingehend eingelullt, dass sie glaubt, die Flüchtlingskrise in Griechenland habe nachgelassen. Tatsächlich ist sie zu einer dauerhaften Geißel geworden, die Europas Seele zerfrisst und künftige Probleme hervorbringen wird. Die Insel Lesbos war und bleibt ihr Epizentrum.

Die Geschichte von Shabbir zeigt, wie stark die Realität mit Europas offizieller Version der Ereignisse kollidiert. Shabbir, 40, lebte mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern in einer mittelgroßen Stadt in Pakistan, wo er eine Autovermietung hatte. Eines Nachts im Dezember 2015 warf eine örtliche Gruppe islamistischer Extremisten Brandsätze auf das Haus von Shabbirs Nachbarn und wartete draußen auf die fliehende Familie.

Shabbirs Nachbarn waren Christen, und die Extremisten wollten sie verjagen und ihr Haus zu einer madrasa (einer Religionsschule) machen. Ohne zu überlegen eilte Shabbir seinem christlichen Nachbarn zu Hilfe. Danach wurde er zum „Ketzer“ erklärt, sein Geschäft wurde niedergebrannt und sein Bruder brutal ermordet. Seine Frau und Kinder flohen in benachbarte Dörfer, und Shabbir machte sich zusammen mit seinem ältlichen Vater auf den langen, grausamen Weg durch den Iran und die Türkei in das (wie er dachte) sichere, zivilisierte Europa.

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