b492130446f86f380edb6121_jo1820.jpg

Russland - vom Fußball zum Faschismus

MOSKAU – In Russland ging das Jahr 2010 mit einer beispiellosen Zunahme der ultra-nationalistischen Gewalt zu Ende. Bilder von randalierenden, rechtsradikalen Jugendlichen beherrschten die Berichterstattung im Fernsehen.

Die Gewalt begann nach einem gewöhnlichen Streit zweier kleiner Gruppen junger Leute um ein Taxi. Eine Gruppe bestand aus jungen Leuten aus dem Nordkaukasus, die anderen waren Fans des Moskauer Fußballvereins. Einer der Anführer der Moskauer Fans, Jegor Swiridow, wurde ermordet.

Am nächsten Tag ging das Gerücht in der Stadt um, die Polizei habe alle Verdächtigen im Mordfall Swiridow laufen gelassen (später stellte sich heraus, dass das der Wahrheit entsprach). Spontane Proteste brachen vor dem Polizeihauptquartier aus, aber die Polizei schritt nicht ein.

Am 11. Dezember gab es eine weitere Demonstration am Tatort, die sich dann Richtung Zentrum zum Manegenplatz fortbewegte, der an den Kreml grenzt. Die Menge begann, nationalistische Lieder zu singen und Passanten anzugreifen, die nicht slawisch aussahen.

Es dauert lange, bis die Polizei eintraf. Die Schlägereien breiteten sich auf die U-Bahn aus, wo die Polizei die Situation nicht unter Kontrolle hatte. Die Nacht endete mit vielen Verwundeten und einem weiteren Toten. Am nächsten Tag erschien auf dem Manegenplatz neben dem Grabmal des unbekannten Soldaten ein riesiges Hakenkreuz.

Diese Ereignisse haben eine Vorgeschichte. 2002 bauten die Moskauer Behörden riesige Bildschirme auf dem Manegenplatz auf, um ein Weltmeisterschaftsspiel zwischen Russland und Japan zu übertragen. Bis zum Anpfiff hatten sich jedoch bereits zehntausende junger Fans auf dem Platz versammelt, viele von Ihnen betrunken und aufgebracht. Als das Spiel mit einem 1-0-Sieg für Japan abgepfiffen wurde, entlud sich die Wut der Menge spontan in Pogromen und Schlägereien.

Subscribe to PS Digital
PS_Digital_1333x1000_Intro-Offer1

Subscribe to PS Digital

Access every new PS commentary, our entire On Point suite of subscriber-exclusive content – including Longer Reads, Insider Interviews, Big Picture/Big Question, and Say More – and the full PS archive.

Subscribe Now

Diesen Ereignissen ging eine Propagandakampagne voran, zu der auch von der Regierung kontrollierte Zeitungen, Fernseh- und Radiosender beigetragen hatten. Man hatte beschlossen, die kommende Weltmeisterschaft für „patriotische“ Zwecke zu nutzen.

Russische Politiker – allen voran der damalige Präsident Vladimir Putin – hatten beim Schüren der Fußballhysterie eine Vorreiterrolle inne. Die Regierung baute die Bildschirme vor dem Kreml auf, um sicherzustellen, dass der Sieg, von dem alle ausgingen, in patriotischem Jubel enden würde. Niemand hatte mit einer Niederlage gerechnet.

Sorglose Manipulation von patriotischen Gefühlen durch die Behörden hat sich als höchstriskante Angelegenheit erwiesen. Aber der Kreml scheint immer noch nach diesem Mittel süchtig zu sein, um seine Legitimität unter normalen Russen zu untermauern.

Die gewaltigen Proteste in der Ukraine während der Orangenen Revolution vor fünf Jahren haben den Kreml davon überzeugt, dass er einen spontanen Ausbruch öffentlicher Emotionen unter keinen Umständen zulassen darf. Man hat in der Regierung offenbar beschlossen, dass es besser sei, mit den Leidenschaften des Volkes zu flirten und sie so zu kontrollieren, als zu warten, bis sie von selbst ausbrechen.

Damals fürchtete sich der Kreml vor der Möglichkeit, dass eine so genannte „bunte Revolution“ in Russland ausbrechen könnte. Daher wurden enorme Ressourcen, sowohl in Form finanzieller Mittel als auch in Form von Beamtenzeit in Jugendbewegungen investiert, die von den Puppenspielern des Kremls ins Leben gerufen wurden. Verfolgt wurden dabei zwei Ziele: die Kontrolle der politischen Aktivität auf der Straße und die Vorbereitung der Brigaden auf künftige Auseinandersetzungen - einschließlich Wahlmanipulation - mit politischen Oppositionellen. Zu diesem Zweck wurden auch Fußballfan-Kontingente benutzt.

Diese Art der Manipulation ist im Kreml nun eine Selbstverständlichkeit. Zufällig traf an dem Sonntag, an dem der junge Fußballfan in Moskau getötet wurde, Wladislaw Surkow, der erste Stellvertreter in der Regierung von Präsident Dmitri Medwedew, Michael McFaul vom Nationalen Sicherheitsrat Präsident Obamas. Dieses Treffen fand als Teil einer Veranstaltung russischer Jugendbewegungsaktivisten unter Surkow statt.

Ein Zitat von Surkow von dem Tag ist besonders viel sagend: „Bereitet Euch auf die Wahlen vor, trainiert Eure Köpfe und Eure Muskeln. Ihr könnt Euch immer auf unsere Unterstützung verlassen.“ Diese Muskeln wurden außerhalb des Kremls an demselben Tag noch benutzt.

Um zu verstehen, was hier auf dem Spiel steht, braucht man nur den Namen der wichtigsten Jugendorganisation zu kennen, die vom Kreml ins Leben gerufen wurde: Nashi oder „Unser“. Es fällt schwer, an einen Namen mit mehr Explosivpotential zu denken, denn der Name verkündet stolz eine Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“ – der älteste und zerstörerischste Instinkt des Menschen. Und es fällt auch schwer, bei einem derart atavistischen Versuch der Regierung, Einfluss zu nehmen, bezahlt mit Steuergeldern, rationale Argumente zu finden.

Das Resultat ist, dass spezielle, vom Kreml geförderte Jugendbrigaden heute Aktivisten der „anderen Seite“ zusammen schlagen. Wenn die Polizei Nashi-Mitglieder festnimmt, kommt ein Telefonanruf von der Administration des Präsidenten und die Häftlinge werden frei gelassen. Das ist der Grund, warum die Polizei gegen die randalierenden Jugendlichen nichts in der Hand hatte. Der Kreml hat die Polizei erst dann angewiesen, die Kontrolle zu übernehmen, als er angesichts des Grads der durch die Nashi hervorgerufenen Gewalt Panik bekam.

Es ist unklar, ob die nationalistische Jugendrebellion unterdrückt werden konnte und ob die Menschen in Moskau die U-Bahn während der russischen Neujahrsfeierlichkeiten und der orthodoxen Feiertage angstfrei nutzen können. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die verfassungswidrigen Aktivitäten des Kreml – die Bürger in die, die dazugehören, und die, die nicht dazugehören aufzuteilen – zu einer schwerwiegenden sozialen und politischen Destabilisierung geführt haben. In einer Gesellschaft mit geschwächten Abwehrkräften gegen Extremismus – und mit einer komplett dysfunktionellen Regierung – spielen die Behörden vielleicht buchstäblich mit dem Feuer.

https://prosyn.org/dcs0VN1de