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Der Gewinn des Finanzsektors darf nicht zum Verlust an Biodiversität führen

LONDON – Man würde erwarten, dass Finanzinstitute in Vermögenswerte investieren, die überdimensionale Renditen ermöglichen. Aber wenn es um die biologische Vielfalt im Einzelnen und das Naturkapital im Allgemeinen geht, verhalten sich die meisten Investoren immer noch so, als seien diese Vermögenswerte unbegrenzt, auch wenn sie erschöpft oder zerstört werden. Sie gehen nach wie vor davon aus, dass die Rendite, die diese Vermögenswerte erbringen, kostenlos ist, obwohl die COVID-19-Pandemie deutlich zeigt, welche nahezu unbegrenzten Kosten es verursacht, die Eingriffe des Menschen in die Natur zu ignorieren.

Der vom Menschen verursachte Rückgang der natürlichen Umwelt ist eine Tatsache, und er vollzieht sich schnell. Der jüngste Living Planet-Bericht des World Wildlife Fund zeigte zwischen 1970 und 2016 einen durchschnittlichen Rückgang der Wildtierpopulationen von 68 Prozent. Wo Populationen kippen, folgt unweigerlich das Aussterben. Nach Angaben der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (Zwischenstaatliche wissenschaftspolitische Plattform für biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen), sind rund eine Million Arten - oder etwa ein Viertel aller bewerteten Tier- und Pflanzengruppen – in den kommenden Jahrzehnten vom Aussterben bedroht, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, um die Ursachen des Biodiversitätsverlusts zu mindern.

Politiker, die den Rückgang und die Ausrottungsprognosen von Wildtierpopulationen kennen, rufen oft zum Handeln auf, ohne jedoch die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Aber wenn die Menschen sich engagieren und Druck auf die Politik ausüben, kommt den Entscheidungsträgern Untätigkeit teuer zu stehen, wie aus der Reaktion auf den Klimawandel deutlich wird. Europas führende Politiker entschieden sich für mutige Maßnahmen gegen den Klimawandel und für Maßnahmen, die von verbindlichen Zielen für erneuerbare Energien bis hin zu Kohlenstoffpreisen reichen, weil sie wissen, dass es in ihrer Verantwortung liegt, die massiven Störungen abzuwenden, die auf eine Welt warten, die sich um mehrere Grad erwärmt.

Glücklicherweise wird die Zukunft der Biodiversität bald von ähnlichen Entscheidungen profitieren - und von den damit verbundenen Chancen. Politik und Wissenschaft ziehen zunehmend an einem Strang, was den Verlust der biologischen Vielfalt und des Naturkapitals im Großen und Ganzen betrifft. Sowohl die Existenz als auch die Ursachen des Problems werden jetzt in der Politik zur Kenntnis genommen. Angesichts dramatisch angeschlagener Budgets werden die Regierungen jedoch nicht in der Lage sein, die nächste Phase der Umsetzung zu finanzieren.

Die Regulierungsbehörden drängen die Finanzinstitutionen zu den Berichts- und Offenlegungsstandards, die grüne Investitionen transparenter machen und dringend benötigtes Privatkapital anziehen werden. Die Märkte sehen diesen Wandel und reagieren darauf: Das Gesamtvermögen in Fonds, die auf ökologische, soziale und Governance-Faktoren setzen, stieg im zweiten Quartal dieses Jahres auf 1,1 Billionen US-Dollar.

Auch die Zivilgesellschaft gibt ihrer Stimme Gehör und fordert einen schnelleren Wandel. Im vergangenen Monat veröffentlichte Portfolio Earth seinen Bericht Bankrolling Extinction, in dem das Engagement von 50 der weltweit größten Banken in bestimmten Sektoren mit „Auswirkungen auf die biologische Vielfalt” berechnet wurde, darunter Land- und Forstwirtschaft, Bergbau, Fischerei, Infrastruktur und Transport. Allein das Engagement der drei größten Banken - Bank of America, Citigroup und JPMorgan - überstieg im Jahr 2019 550 Milliarden Dollar, und die Kredite und Übernahmen in diesen Sektoren durch alle 50 überstiegen 2,6 Billionen Dollar.

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Nur sehr wenige der untersuchten Banken hatten Berichtssysteme eingeführt, um die Auswirkungen ihrer Kredite und Kreditvergaben auf die biologische Vielfalt zu messen, ein erster Schritt zur Verringerung der negativen Auswirkungen. Und abgesehen von einigen führenden europäischen Banken blockierten nur sehr wenige die Finanzierung der Unternehmen, die den größten Schaden anrichteten.

Der Bankrolling Extinction-Bericht hebt die Schwächen des Finanzsystems hervor und legt nahe, dass die Bilanzen der Banken gefährdet sind. Dieses Risiko spiegelt sowohl die Schädigung der biologischen Vielfalt wider, die die Produktion zu verringern droht (z.B. die Nahrungsmittelproduktion aufgrund der schrumpfenden Fischbestände), als auch die Aussicht auf neue Regulierungen, die kommerzielle Investitionen wie Forst- und Bergbaukonzessionen entwerten könnten. Wie der Bericht zeigt, ist auch der Ruf der Finanzinstitutionen gefährdet.

Bei Finance for Biodiversity sind wir der Meinung, dass ein radikaler Systemwandel erforderlich ist, um Regeln, Rechte und Normen zu reformieren. Im vergangenen Monat haben wir mehrere Empfehlungen ausgesprochen, von denen wir hoffen, dass sie führenden Persönlichkeiten auf diesem Gebiet als Richtschnur dienen können.

Finanzinstitutionen könnten viele dieser Änderungen selbst umsetzen, was ihnen einen Early-Mover-Vorteil verschaffen könnte, oder mit der Umsetzung beginnen, sobald die Aufsichtsbehörden sie verpflichtend vorschreiben. Dazu gehören die Messung und Offenlegung der Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die biologische Vielfalt und Stresstests der erwarteten Risiken. Indem sie solche Risikodaten zur Verfügung stellen, können Kreditgeber Unternehmen, Bürgern, Aufsichtsbehörden und Regierungen dabei helfen, die Verbindung zwischen dem Verlust der biologischen Vielfalt und der Realwirtschaft herzustellen, wodurch Risiken und Chancen erkannt und eine Finanzkrise im Zusammenhang mit der biologischen Vielfalt abgewendet werden kann.

Wir empfehlen den politischen Entscheidungsträgern, in dreierlei Hinsicht tätig zu werden. Erstens sollten sie die Auswirkungen ihres eigenen Handelns auf die biologische Vielfalt bewerten, z.B. durch den Kauf von Unternehmensanleihen über die so genannte quantitative Lockerung durch die Zentralbanken. Zweitens sollten die Finanzaufsichtsbehörden ihre aufsichtsrechtliche Rolle bei der Prüfung der Biodiversitätsrisiken und -auswirkungen von im Inland ansässigen Institutionen ausbauen. Und drittens können politische Entscheidungsträger die Bedingungen und Regeln für die Zulassung von Finanzunternehmen nutzen, um Branchennormen zu ändern.

Regierungen sollten die Rechtssysteme reformieren, um den Schutzschild der Finanzinstitutionen aufzuheben und die Haftung der Unternehmen für den Verlust der biologischen Vielfalt auf ihre Banker und andere Gläubiger auszudehnen. Finanzinstitutionen rechtlich für Schäden haftbar zu machen, die durch die Verwendung ihres Kapitals verursacht werden, kann kaum genügen. Behörden, die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen untersuchen, verhängen routinemäßig finanzielle Sanktionen, wenn örtliche oder internationale Gesetze für den Zweck ungeeignet sind.

Die biologische Vielfalt kann bei finanziellen Entscheidungen nur durch systemische Veränderungen, die die Vernetzung unserer Gesellschaft, Wirtschaft und unseres Planeten anerkennen, wichtiger gemacht werden. Nur solche Veränderungen können den Druck auf die biologische Vielfalt verringern und die finanziellen Möglichkeiten aufzeigen, die sich aus der Bewahrung unserer natürlichen Ressourcen ergeben.

Aus dem Englischen von Eva Göllner

https://prosyn.org/yBcfuVmde