unemployment Mario Tama/Getty Images

Die Wette der Fed auf überschüssige Arbeitskräfte

LONDON – In den letzten Wochen hat die US-Federal-Reserve den Märkten Auftrieb verschafft, indem sie das Tempo der Normalisierung ihrer Politik drosselte. Die letzten öffentlichen Äußerungen der Fed-Vorsitzenden Janet Yellen Ende März waren gemäßigter als angenommen. Und auf ihrer letzten Sitzung deutete die Fed an, sie könnte die Zinsen im Jahr 2016 statt um vier Viertelpunkte nur um zwei Viertelpunkte erhöhen. Daraufhin haben Investoren den US-Dollar verkauft und die Kurse für Aktien und US-Anleihen in die Höhe getrieben. Auch die Rohstoffpreise und die Kurse in den Schwellenländern sind gestiegen.

Auf den ersten Blick sind diese Entwicklungen sonderbar. Zunächst einmal scheint die Entscheidung der Fed im Widerspruch zu Anzeichen einer Beschleunigung der US-Inflation zu stehen. Würde die Fed, wie teilweise angenommen, auf Ängste in Bezug auf das globale Wirtschaftswachstum reagieren, würde es keinen Sinn machen, dass Risikoanlagen – darunter in erster Linie Rohstoffe und Werte der Schwellenländer – im Preis steigen. Aber es gibt eine logische Erklärung für diese offensichtlichen Inkonsistenzen, die darauf hindeutet, dass die Fed ein riskantes Spiel spielen könnte.

Bevor wir uns mit dieser Wette beschäftigen, lohnt es sich, andere Erklärungsversuche für die Marktrallye zu betrachten. Der erste dreht sich um die geldpolitischen Erleichterungen der Europäischen Zentralbank und der Bank von Japan. Aber negative Zinssätze und flache Ertragskurven schaden den Einkünften der Banken; die Verbindung zwischen außerordentlichen geldpolitischen Maßnahmen und Wachstum oder Inflation bleibt weiterhin zweifelhaft; und sicherlich ist die Geldpolitik bereits jetzt durch abnehmende Renditen geprägt.

Eine weitere Sichtweise konzentriert sich auf die Verknappung des Ölangebots durch die OPEC-Länder und behauptet, dies stütze die Ölpreise und damit auch die teuer produzierenden Förderer in Nordamerika. Aber diese Logik beruht mehr auf Korrelation als auf einer Kausalbeziehung. Die OPEC hat sich nicht für Produktionseinschränkungen entschieden, und auf eine Angebotsfixierung hat sich lediglich eine Handvoll ihrer Mitglieder geeinigt. Eine echte Reduktion des globalen Angebotsüberschusses ist erst bei einem Produktionsrückgang zu erwarten, wenn bestehende Ölquellen mangels Investitionen geschlossen werden.

Eine plausiblere Erklärung für die Aufwärtstendenz der Märkte besteht im nachlassenden Pessimismus. Rezessionsängste in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Deutschland – Ländern mit Vollbeschäftigung und steigenden Haushaltsrealeinkommen – waren immer schon etwas merkwürdig, ebenso wie die Ansicht, die Kapriolen der Finanzmärkte hätten den atypischen Effekt eines deutlichen Rückgangs der Haushalts- oder Unternehmensausgaben. Und in China – einem Land, dessen Wachstum zwar abnimmt, das aber weit von einer Rezession entfernt ist – helfen steigende Haushaltseinkommen und zunehmender Konsum dabei, den Rückgang der Anlageinvestitionen auszugleichen.

Dies bringt uns zurück zur Fed und ihrem riskanten Spiel. Der Sinneswandel der Politiker stammt wahrscheinlich von einer Neueinschätzung der Schwächen der US-Wirtschaft, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. In der Tat stellte Yellen bei ihren jüngsten Äußerungen fest, die Erwerbsquote sei „hochgekommen“, und es bestehe weiterhin „Raum für Verbesserungen“. Wenn die Fed nun glaubt, die Wirtschaft habe Möglichkeiten für eine trendüberschreitende Expansion, ohne dabei viel Inflation zu verursachen, kann sie, um mit John Lennon zu sprechen, „dem Wachstum eine Chance geben“.

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Schnelleres Wachstum und langsamere geldpolitische Straffung sind gute Nachrichten für die Wertpapierpreise. Eine sanftere Fed bedeutet auch weniger Risiko einer Dollar-Aufwertung – eine eindeutige Hilfe für die Rohstoffmärkte und in Dollar verschuldete Schwellenländer. Und schließlich verschafft ein stabiler Dollar auch dem Renminbi etwas Luft, was den Abfluss „heißen“ Kapitals aus China verlangsamen und damit eine weitere Risikoquelle aus dem weltweiten Finanzsystem entfernen sollte. Angesichts dieser Effekte ist es kein Wunder, dass die Märkte steigen.

Aber bei steigender US-Kerninflation geht die Fed ein großes Risiko ein. Immerhin liegt der Index der Kernkonsumentenpreise bereits bei 2,3%, angeführt von 3,1% Inflation bei den Dienstleistungen (was beides einer Jahressteigerung von über einem halben Prozentpunkt entspricht). Auch die Inflation der Wohnkosten, die etwa ein Viertel des CPI-Index ausmachen, ist auf 3,2% gestiegen. Und die Preiszuwächse im Gesundheitsbereich, die in den letzten Jahren noch rückläufig waren, haben sich innerhalb eines Jahres auf 3,9% verdoppelt.

Die Fed zieht es vor, sich nach der Kernrate der „privaten Konsumausgaben“ zu richten, die bei moderateren 1,7% liegt. Die Preise für diese Güter sind weiter fallend, und die Dienstleistungen in diesem Bereich wurden um lediglich 2,1% teurer, was sich im letzten Jahr kaum verändert hat.

Aber das Hauptaugenmerk der Fed liegt auf dem Arbeitsmarkt. Laut einem Bericht vom März ist die zivile Erwerbsquote von ihren Tiefständen im September 2015 um einen halben Prozentpunkt auf jetzt 63% gestiegen. In der gleichen Studie wird erwähnt, dass fast sechs Millionen Amerikaner, die momentan nicht erwerbstätig sind, arbeiten möchten. Weitere sechs Millionen arbeiten aus wirtschaftlichen Gründen mit verringerter Stundenzahl.

Teilweise spiegelt das niedrige Niveau der US-Erwerbsquote strukturelle Faktoren wider. Fast alle Unterkategorien – bezogen auf Geschlecht, Ausbildungsniveau, Altersklasse oder Rasse – haben seit 2000 einen Rückgang erlitten. Aber typischerweise ist das Angebot an Arbeitskräften auch zyklisch bedingt und vergrößert sich im Zuge wirtschaftlicher Verbesserungen und aufkommender Arbeitsgelegenheiten. Bis jetzt ist dieses zyklische Muster in der „neuen Normalität“ nach der Krise noch nicht aufgetreten.

Was könnte ein zunehmend elastisches Angebot an Arbeitskräften für die Politik der Fed bedeuten? Die Antwort hängt davon ab, wieviel Überschuss verfügbar ist. Gehen wir einmal von 1,5 Millionen Arbeitnehmern aus – einer konservativen Zahl, die immer noch einem Verhältnis der zivilen Beschäftigten zur Gesamtbevölkerung entspricht, das deutlich unterhalb seines Nachkriegshöhepunktes liegt. Bei einem plausiblen Tempo der Schaffung neuer Arbeitsplätze in den USA würde es 12-18 Monate dauern, diese neuen Teilnehmer auf dem Arbeitsmarkt zu absorbieren. Durch diesen Zufluss würde der Lohn- und Preisdruck gedämpft, was der Fed eine schrittweise Normalisierung der Zinsen ermöglichen könnte. Je größer der Pool verfügbarer Arbeitskräfte, desto länger kann es die Fed gemütlich angehen lassen.

Dies erinnert an das Experiment des ehemaligen Fed-Vorsitzenden Alan Greenspan Ende der 1990er Jahre, als er aufgrund einer (richtigen) Ahnung, die Produktivität werde steigen, die US-Wirtschaft ankurbelte. Könnte es sein, dass Yellen bereit ist, eine ähnliche Wette auf das Angebot an Arbeitskräften einzugehen?

Bislang wird die Aufmerksamkeit der Welt noch durch die Politik der populistischen Unzufriedenheit in Anspruch genommen – von der Präsidentschaftskampagne Donald Trumps bis hin zu der Möglichkeit eines britischen Austritts aus der Europäischen Union. Aber die wirklichen Hinweise auf die Zukunft geben uns die Berichte über Beschäftigung und Inflation in den USA. Dort sollte man hinschauen, wenn man die Faktoren sucht, von denen die größten Wetten beeinflusst werden – in der Politik und auf den Märkten.

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