birdsall7_ Guillermo LegariaGetty Images_poverty Guillermo Legaria/Getty Images

Der Fluch sinkender Erwartungen

WASHINGTON, DC – Vor COVID-19 hatten viele Menschen in den Entwicklungsländern, was ihre Zukunft anging, ein gutes Gefühl. Insgesamt haben sich diese Länder schnell von der großen Rezession der Jahre 2009-10 erholt, und viele – insbesondere in Afrika und Lateinamerika – profitierten von Chinas immer weiter wachsender Nachfrage nach Öl, Mineralien und Landwirtschaftsprodukten. Die Erwartungen stiegen.

Nicht so in den USA, wo die Vorteile des Wirtschaftswachstums schon seit den 1980ern den bereits Reichen zugute kamen, während die Mittelklasse und die Armen immer mehr abgehängt wurden. Viele Analysten führen den Aufstieg der populistischen Rechten und US-Präsident Donald Trumps Wahl im Jahr 2016 auf diese Trends zurück. Während sich die Mittelklasse verkleinerte, geriet ein wachsender Anteil der weißen Arbeiterklasse in Verzweiflung. Viele sind wütend und frustriert über globalisierungsbedingte Arbeitsplatzverluste, die Vernachlässigung der Opioid-Epidemie durch die Regierung, unterfinanzierte Sozialprogramme und sogar den profitorientierten Kapitalismus selbst. (Die interessante Ausnahme von der schlechten Stimmung unter der Arbeiterklasse sind die Schwarzen und Latinos, die – während sie die Lücke zu den Weißen immer mehr schließen – optimistischer in die Zukunft blicken.)

Das Ende der steigenden Erwartungen in Amerika kam langsam über mehrere Jahrzehnte hinweg nach dem Nachkriegsboom, im Zuge dessen das liberaldemokratische System der USA durch die traditionellen politischen Institutionen und etablierten Normen relativ widerstandsfähig geworden war. Aber im jetzigen Jahrhundert ließ der soziale Zusammenhalt (zumindest unter den Weißen), und ein gemeinsamer Sinn für moralischen Fortschritt immer mehr nach, was das staatliche System zunehmend anfällig für die Verheißungen des illiberalen Populismus (und noch schlimmere Entwicklungen) machte.

Diese Erfahrung bietet uns, was die Entwicklungsländer betrifft, eine Lektion: Enttäuschte Erwartungen sind nicht nur für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen schlecht, sondern auch für die Fähigkeit einer Gesellschaft, demokratische Normen und Institutionen zu schaffen und aufrecht zu erhalten.

Allgemein war das Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern mehr als eine Generation lang stärker und stetiger als in den USA. China und Indien starteten bereits in den 1990ern durch, und die meisten anderen Entwicklungsregionen folgten dann Anfang der 2000er, darunter auch – auf besonders dramatische Weise – die afrikanischen Länder südlich der Sahara. Dieses Wachstum war inklusiv genug, um zig Millionen Menschen aus der extremen Armut (unter 1,90 Dollar pro Tag) zu befreien, aber es hat ihnen nicht notwendigerweise einen Platz in der Mittelklasse verschafft. Statt dessen gibt es eine neue große Klasse von „Kämpfern“, deren Familien täglich mit vier bis zehn Dollar pro Kopf auskommen müssen.

Diesen Kämpfern geht es besser als den Armen, aber sie haben kein regelmäßiges Einkommen und keine Sozialversicherung und sind daher verletzlich gegenüber Haushaltsschocks wie Gesundheitskrisen oder plötzlicher Arbeitslosigkeit. Die meisten sind selbständige oder informelle Arbeitnehmer in den Sektoren der Ernährung, des Transports (Taxifahrer) oder des Einzelhandels innerhalb der expandierenden Stadtzentren. Diese über drei Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern sind ehrgeizig genug, um eine bessere Zukunft anzustreben, laufen aber auch ständig Gefahr, in die Armut zurückzufallen.

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Mit der Zeit stiegen einige Kämpfer (meist solche mit einer gewissen höheren Ausbildung) in die große und schnell wachsende Mittelklasse auf, wo sie täglich zwischen zehn und fünfzig Dollar pro Kopf verdienen. Aber immer noch sind die Kämpfer der Arbeiterklasse in den Entwicklungsländer in der Mehrzahl. Zu ihnen gehören etwa 60% der Menschen, zur Mittelklasse etwa 20%, und die extrem Armen und Reichen haben einen Anteil von etwa 12% bzw. 8%. Unter diesen sind es die Haushalte der Kämpfer und der neuen Mittelklasse, die in den Entwicklungsländern am stärksten unter den pandemiebedingten makroökonomischen Schocks leiden.

Andy Sumner vom Londoner Kings College und seine Mitautoren schätzen, dass durch eine von COVID-19 verursachte wirtschaftliche Schrumpfung in den Entwicklungsländern in Höhe von 10% des 2020er BIP etwa 180 Millionen Menschen unter die Grenze extremer Armut von 1,90 Dollar pro Tag geraten könnten. Und obwohl die Weltbank die BIP-Rückgänge der einzelnen Länder auf durchschnittlich nur 5% schätzt, warnt sie immer noch, dass 70-100 Millionen Menschen in extreme Armut abgleiten könnten.

So könnten sich die ärmsten derjenigen, die vor der Pandemie zu den Kämpfern zählten, plötzlich unter den „extrem Armen“ wiederfinden, und eine noch größere Anzahl der verbleibenden Kämpfer – laut Schätzungen der Weltbank fast 400 Millionen – sind während der aktuellen Rezession anfällig für scharfe Einkommensrückgänge. Nehmen wir weitere 50 Millionen Menschen in Mittelklassehaushalten hinzu, die Gefahr laufen, zu den Kämpfern abzusteigen, dann sind insgesamt 450 Millionen Menschen gefährdet – mehr als die gesamte US-Bevölkerung.

Was bedeutet es für Millionen von Menschen, wenn es ihnen plötzlich schlechter geht, als sie erwartet hatten – wenn auch nicht durch eigene Schuld? Die Erfahrung in Lateinamerika zeigt, dass es, wenn eine artikulierte und fordernde Bürgerschaft unter einer heftigen Enttäuschung ihrer Erwartungen leidet, zu sozialen Spannungen und politischer Polarisierung im Stil der USA kommt. 2014-2015 begann das Wachstum in dieser Region massiv zurückzugehen und beträgt nun nur noch weniger als 1% jährlich, was einem negativen Pro-Kopf-Wachstum entspricht. So wurden Bedingungen, die akzeptabel waren, als die Wirtschaft als Ganze wuchs, plötzlich viel weniger tolerierbar.

In den fünf Jahren danach gab es in Brasilien, Bolivien, Chile, Kolumbien und Ecuador massive Proteste – die meisten gegen staatliche Korruption und die Insider-Privilegien der politischen und unternehmerischen Eliten. Nur im vergleichsweise wohlhabenden Chile waren die Demonstranten mit ihren Forderungen nach progressiven Veränderungen erfolgreich.

Im Schatten von COVID-19 stehen die Entwicklungsländer unter erheblichem politischen und finanziellen Druck. Ohne eigene handelbare Währungen können sich diese Länder (im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union) kein Geld von ihren zukünftigen Bürgern leihen, um ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu decken.

Angesichts der Gefahr durch zerfasernden sozialen Zusammenhalt, politische Instabilität und immer mehr Autokratie und Populismus sollten der Internationale Währungsfonds und die multilateralen Banken viel größere Kreditprogramme für Länder mittleren Einkommens auflegen. Diese müssen einfach und unkompliziert sein und sofortige Geldtransfers zulassen, um zu gewährleisten, dass Kinder in armen und kämpfenden Haushalten keinen Hunger leiden und nicht dauerhaft die Schule verlassen müssen. Solche Investitionen sind nötig, um vom zukünftigen Humankapital profitieren zu können, von dem die Entwicklung letztlich abhängt.

Die COVID-Krise ist ein Moment, in dem die liberalen Demokraten in den USA nicht nur dem Autoritarismus im eigenen Land die Stirn bieten, sondern sich auch für eine zusätzliche Unterstützung der Entwicklungsländer einsetzen müssen. Wenn Menschen ihre Aussichten auf eine bessere Zukunft schwinden sehen, kann dies schnell auf Kosten der Politik gehen – und Freiheit und Bürgerrechte mit sich in den Abgrund ziehen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/FULsDjgde