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Naht der Winter für die EU?

BERLIN – Ein weit verbreitetes Narrativ besagt, dass die Europawahlen im Mai der „dritte Akt“ in dem populistischen Drama sein werden, das 2016 mit dem Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich und der Wahl von US-Präsident Donald Trump begann. Zu erwarten, so heißt es, sei ein großer Showdown zwischen den Kräften „offener“ und „geschlossener“ Gesellschaften, in dem die Zukunft der Europäischen Union auf dem Spiel steht. Es klingt alles sehr plausibel. Und es ist völlig falsch.

Der Brexit und die Wahl Trumps führten viele politische Analysten zu dem Schluss, dass auch die europäischen Wähler die etablierten Parteien für neue, identitätsgestützte Tribus aufgeben würden. Doch in Amerika sind die politischen und regionalen Trennlinien derart verfestigt, dass sie beeinflussen, wo jemand arbeitet, wen man heiratet und wie man die Welt betrachtet. Und im Vereinigten Königreich haben sich schon seit langem ähnliche Gräben zwischen Nord und Süd, jung und alt, Stadt und Land sowie Hochschulabsolventen und denjenigen, die keine Hochschule besucht haben, aufgebaut.

Die europäische Politik ist stärker im Fluss. Eine aktuelle Meinungsumfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) und von YouGov unter nahezu 50.000 Wählern in 14 EU-Mitgliedstaaten legt nahe, dass das beste Modell zum Verständnis des Europas des Jahres 2019 nicht die USA oder das Vereinigte Königreich sind, sondern Westeros, der wichtigste Schauplatz der HBO-Serie Game of Thrones. Die politische Landschaft Europas gliedert sich nämlich durchaus nicht in stabile Tribus, sondern ist ein unberechenbares Schlachtfeld ständig wechselnder Bündnisse; ihr kennzeichnendes Merkmal ist radikale Volatilität.

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