Europas in Zukunft mit einer Verfassung

Letzte Wocher stellte der Präsident der Europäischen Versammlung, Valery Giscard d'Estaing, ein sogenanntes "Gerippe" einer künftigen Verfassung Europas vor. Es enthielt alle Zutaten einer Verfassung, nämlich Werte, Prinzipien, Bürgerrechte, Zuständigkeiten der Union und ihrer Institutionen usw.. Dieses Dokument entstand, obwohl der Auftrag für die Versammlung ihre Mitglieder nicht ermächtigt hatte, selbst eine Verfassung vorzulegen. Entsprechend der Erklärung von Nizza, die ich als einer der beteiligten Ministerpräsidenten mitentworfen hatte, hatten wir nur die Grundlagenverträge der EU zu vereinfachen und umzustrukturieren.

Nachdem die Versammlung ihre Arbeit aufgenommen hatte, wurde unser Auftrag abgewandelt, weil von verschiedenen Seiten Druck gemacht worden war. Dieser Druck kam von Mitgliedsländern, von Organisationen der Zivilgesellschaft, und er erreichte uns in Form von Briefen, Dokumenten und email-Nachrichten aus ganz Europa. Es war also ein demokratischer Druck, der unseren Auftrag abänderte. Wenn sogar der Außenminister von Großbritannien, also eines Landes, das sich etwas auf seine Jahrhunderte alte, "ungeschriebene Verfassung" zu Gute hält, behauptet, er wünsche dringend eine schriftliche europäische Verfassung, dann hatte sich wirklich etwas geändert!

Dennoch meinten Gelehrte wie Ralph Dahrendorf und Joseph Weiler, eine europäische Verfassung mache noch keinen Sinn, weil eine demokratische Verfassung eine gemeinsame Identität voraussetze, die es in der EU, in der die Loyalität noch vorwiegend den einzelnen Nationen gilt, noch nicht gäbe. Andere, wie Robert Dahl, behaupten, Demokratie verlange kleinere Einheiten, die sich auf gemeinsame Interessen und persönliche Beziehungen stützten. Für sie war Europa zu groß, um wirkliche demokratische Institutionen zu Wege zu bringen.

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