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In Europa müssen die Menschen an erster Stelle stehen

PARIS – Jene Art populistisch motivierter Unzufriedenheit, die den Brexit in Großbritannien schürte, ist in ganz Europa auf dem Vormarsch. Das ist ein Anzeichen dafür, dass die politischen Entscheidungsträger das zentrale Ziel des europäischen Projekts aus den Augen verloren haben: nämlich das Wohlergehen aller Europäer sicherzustellen. Im ersten Bericht über menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1990 wurde es so formuliert: „Die Menschen sind der wahre Reichtum einer Nation.”

Die beste Möglichkeit, von den Menschen eines Landes oder einer Region zu profitieren, besteht in der Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Amartya Sen kam in seinem maßgeblichen Buch The Idea of Justice zu dem Schluss, dass wahre soziale Gerechtigkeit nicht die Gleichbehandlung aller, sondern eher die ungleiche Behandlung der Menschen zugunsten der Armen und am stärksten Benachteiligten erfordert. Die bloße Gleichheit vor dem Gesetz oder im Hinblick auf öffentliche Finanzen reicht nicht aus, wenn wir nicht auch die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen Einzelner oder Gruppen in einer Gesellschaft berücksichtigen. In Anerkennung dieser Tatsache hat man in aufeinanderfolgenden UN-Entwicklungsberichten seit 1990 mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass sich sowohl Wirtschaft als auch Gesellschaft stärker präsentieren, wenn die Politik das Wohlergehen der Menschen an erste Stelle stellt.

Allerdings hat diese Perspektive noch keinen Eingang in die elitären Kreise der politischen Entscheidungsfindung in der EU gefunden, wo wohlgesinnte Ökonomen und Politiker oftmals glauben, das Richtige zu tun, wenn sie Haushalte ausgleichen und Ausgaben kürzen und dies in der Regel durch die Senkung der Budgets für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur. Trotz weniger empirischer Belege sind diese politischen Entscheidungsträger der Ansicht, dass die Haushaltsdisziplin von heute zu einer stärkeren Wirtschaft von morgen führen wird.  

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