Europas Chance in Eurasien

BERLIN – Der rasante Wandel des globalen Energiesystems schürt vor allem in Europa weitverbreitete Ängste – vor Energieversorgungsengpässen und den Folgen bestehender Abhängigkeiten. Das Problem ist nicht die Verknappung globaler Energieressourcen. Im Gegenteil. Dank Energieeffizienz-Initiativen wie der Nullenergie-Gebäuderichtlinien der Europäischen Union, aber auch wegen des wachsenden Wettbewerbs zwischen Schieferölproduzenten und klassischen Ölexporteuren bereitet das Thema Ölknappheit weniger Sorgen denn je. Darüber hinaus lässt der anhaltende technologische Fortschritt darauf schließen, dass fossile Brennstoffe über kurz oder lang durch erneuerbare Energien – Wind, Solar und möglicherweise gar planetarische Winde – abgelöst werden.

Die Unsicherheit hat vielmehr politische Gründe, weil eine kohärente Energiepolitik oft an kurzfristigen Überlegungen scheitert, vor allem in Bezug auf Russland. Es ist die Angst vor der Rückkehr der Geopolitik; die Angst, dass Energiepolitik als außenpolitischen Druckmittel eingesetzt wird. Diese Unsicherheit lädt zu kurzsichtigen Entscheidungen ein. Und daraus erwachsen ernsthafte Sicherheitsrisiken, die wiederum die geopolitische Instabilität verstärken und sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Es ist daher Zeit für einen neuen Ansatz, der sich die wechselseitigen Abhängigkeiten unserer Energie- und Wirtschaftssysteme sowie unserer strategischen Beziehungen zunutze macht, um eine stabilere, effizientere und wohlhabendere Welt zu schaffen.

Dazu müssen wir als Erstes verstehen, wie diese verschiedenen Bereiche ineinandergreifen. Die Annexion der Krim durch den Kreml und die russische Unterstützung für militante Separatisten im Osten der Ukraine haben die Vereinigten Staaten und Europa dazu veranlasst, zunehmend schärfere Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen. Der Rubel verlor mehr als die Hälfte seines Werts, das trieb die Inflation in die Höhe und zwang Russlands Zentralbank zu einer Anhebung der Zinssätze, die wiederum dem Wirtschaftswachstum schadet. Die Kredit-Ratingagentur Standard & Poor’s hat Russland mittlerweile auf Ramschniveau herabgestuft, was den Rubel noch weiter nach unten stürzen lässt.

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