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Das neue, heimliche Mandat der EZB

STANFORD – Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat während der Pandemie einen sonderbaren Wandel durchlaufen. Statt Preisstabilität scheint die Bank bei ihrer Gesamtstrategie ein anderes Ziel zu verfolgen, was nahelegt, dass sie sich ein neues Mandat zu eigen gemacht hat, ohne dies öffentlich bekanntzugeben.

Seit Beginn der COVID-19-Krise hat die EZB erfolgreich die Lücke bei den Kreditkosten zwischen den nördlichen und südlichen Mitgliedstaaten geschlossen und die Renditeaufschläge zwischen dem Norden und dem Süden der Eurozone auf historische Tiefststände gedrückt. Und angesichts der zahlreichen Bedrohungen für die europäische Einheit – von der Regierung Donald Trumps und Wladimir Putins revanchistischem Kreml bis zu einem zunehmend selbstbewussten China und Populisten im Inneren – haben die Entscheidungsträger die Verringerung der Risikoaufschläge faktisch zu ihrer neuen Aufgabe gemacht.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde und Kollegen scheinen begriffen zu haben, dass die Gewährleistung der europäischen Einheit und Solidarität das wichtigste Ziel ist, das eine Einrichtung wie die EZB in dieser kritischen Zeit verfolgen kann. Obwohl vermutlich niemand in der Bank es zugeben würde, besteht kaum Zweifel, dass sie die Risikoaufschläge inzwischen gezielt niedrig halten.

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