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Das Virus und die globale Machtfrage

BERLIN – Covid-19 hat eingeschlagen und dadurch die erste umfassende globale Krise des 21. Jahrhunderts ausgelöst. Dieses mikroskopisch kleine Virus hat die Weltwirtschaft zu einem plötzlichen Stillstand gebracht, wie dies die globalisierte Welt in modernen Zeiten noch nicht erlebt hat. Sucht man nach historischen Beispielen, so stößt man immer auf wirtschaftliche Disruptionen in Verbindung mit einem globalen Krieg.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 endete abrupt nicht nur eine sehr lange Friedensphase, sondern auch die weitere wirtschaftliche Integration in dieser ersten Phase der Globalisierung wurde gestoppt, und das wirtschaftliche Wachstum brach für eine längere Zeit zusammen und wurde durch einen global um sich greifenden Protektionismus verdrängt.

Was folgte, waren ein weiterer Weltkrieg und ein Kalter Krieg, eine ganze Epoche der Weltkriege, die von 1914 bis 1989 dauerte, nur unterbrochen von einer kurzen, zwei Jahrzehnte währenden Zwischenkriegszeit, welche die Welt und die globale Verteilung der Macht radikal verändern sollte. War das britische Empire zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch die wirtschaftlich und militärisch dominierende globale Macht gewesen, so gingen die USA aus den beiden Weltkriegen als die globale Supermacht hervor, und dies galt erst recht mit dem Kollaps der Sowjetunion nach 1989.

Was werden nun die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf die globale Machtverteilung im 21. Jahrhundert sein? Werden die Folgen von Covid-19 vergleichbar sein mit den Folgen der großen, globalen Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts? Wir werden es erleben, aber eines scheint bereits heute gewiss zu sein. Eine solche globale Wirtschaftskrise, wie sie jetzt vor uns liegt, wird nicht ohne schwerste machtpolitische Erschütterungen bleiben. Dabei wird es vor allem darum gehen, welche Supermacht sich als die führende in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts durchsetzen wird. Die alte globale Nummer Eins USA oder die aufsteigende Supermacht China? Die meisten Anzeichen sprechen für die aufsteigende Macht, also für ein chinesisch-ostasiatisches Jahrhundert.

Die Konfrontation zwischen China und den USA ist der entscheidende globale Hegemonialkonflikt. Es geht dabei um die Dominanz in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Dieser Konflikt ist nun keineswegs ein Ergebnis der Covid-19-Krise, sondern war bereits vorher angelegt. Die Pandemie scheint aber einen gewaltigen Verstärker- und Beschleunigungseffekt für diesen geopolitischen Zentralkonflikt zu haben, in Verbindung mit dem Wahltermin für die Präsidentschaftswahlen in den USA im kommenden November.

Für Trump geht es um seine Wiederwahl und damit um alles. Offensichtlich ist er der Meinung, dass es angesichts seines Missmanagements der Covid-19-Krise, gigantischer Arbeitslosenzahlen und einer nie dagewesenen Wirtschaftskrise, eines Schuldigen außerhalb der USA bedarf, um seine Chancen auf eine Wiederwahl zu verbessern. Und dieser Schuldige ist in Trumps Augen China.

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Zudem verfügt China über einen weiteren Vorteil in der US-amerikanischen Innenpolitik. Trumps Politik wirkte und wirkt in der Regel spaltend für die amerikanische Gesellschaft, mit einer Ausnahme: seine Chinapolitik. Hier erhält er eine breite, lagerübergreifende Zustimmung bis tief in das demokratische liberale Milieu hinein.

Viele der Vorwürfe aus den USA gegenüber dem chinesischen System sind ja nur schwer von der Hand zu weisen: Die Volksrepublik China ist ein autoritärer, ja totalitärer Staat unter der alleinigen Herrschaft einer leninistischen Partei. Sie betrieb gegenüber den USA Wirtschafts- und Technologiespionage im großen Stil, benutzte unfaire Handelspraktiken und versucht ihre Gebietsansprüche gegenüber Taiwan und im südchinesischen Meer unter der Androhung von Gewalt durchzusetzen. Die Unterdrückung der ethnischen und religiösen Minderheit in Xinjiang und die Drohungen gegenüber der Demokratiebewegung in Hongkong schaffen ebenfalls alles andere als Vertrauen, und auch die Art und Weise, wie die chinesische Regierung in der Anfangsphase mit der Covid-19-Infektion in Wuhan umgegangen ist, schürt tiefes Misstrauen.

Andererseits aber betreibt die US-Regierung unter Trump aktiv den Rückzug der USA von ihrer globalen Führungsrolle. So bleibt die große Frage: Was wollen die USA eigentlich? Führen ohne Verantwortung? Das wird kaum funktionieren.

China baut sich selbst zu einer globalen Alternative auf und verfolgt geduldig eine langfristig kalkulierende Strategie, die geschickt das Vakuum zu nutzen gedenkt, das der Rückzug der USA aus der globalen Führungsverantwortung hinterlässt. Die Vereinigten Staaten hingegen bleiben im kurzfristigen Denken gefangen. Der internationale Imageschaden, den das Versagen der Trump-Regierung im Kampf gegen COVID-19 angerichtet hat, wird sich nur schwer wieder beheben lassen. Die Pandemie verstärkt den allgemeinen Eindruck, dass es sich bei den Vereinigten Staaten um eine Supermacht im Abstieg handelt, während China, mit langfristiger Strategie, kraftvoll die internationale Spitzenposition anstrebt. Die alte Erzählung vom „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ wird in unseren Tagen durch ein winziges Virus neu geschrieben. Und es bleibt nur zu hoffen, dass dieses Kapitel friedlich bleiben wird.

Europa befindet sich angesichts dieser globalen Konfrontation in einer ungemütlichen Lage zwischen den beiden Mühlsteinen der sich zunehmend bekämpfenden Supermächte. Nicht wissend, was Amerika wirklich gegenüber China will – Eindämmung oder volle Konfrontation bis hin zur Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung, um so Chinas Aufstieg zu verhindern oder gar ungeschehen zu machen. Beides wären illusionäre und hochgefährliche Ziele im Stile der westlichen Chinapolitik des späten 19. Jahrhunderts! Oder alternativ dazu langfristige Eindämmung auf der Grundlage strategischer Rivalität.

Europa wird gut beraten sein, nur die zweite Alternative zu verfolgen. Eine chinesische Weltordnung wird Europa, am westlichen Ende des eurasischen Superkontinents gelegen, nur als Verlierer sehen, geopolitisch und bezogen auch auf seine Werte. Normativ bleiben die Beziehungen zu den USA sehr viel enger und näher. Der totalitäre Einparteienstaat China kann für Europa niemals eine Alternative sein. Andererseits ist China zu groß, zu erfolgreich und zu wichtig, um einfach ignoriert werden zu können. Aus den Fakten erwächst der Zwang zur Kooperation, aber niemals zur Unterwerfung, die sich aus Abhängigkeit, auch wirtschaftlicher und technologischer, zwingend ergeben wird.

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