tb3438c.jpg Tim Brinton

Die Bekämpfung von Krebs im Kindesalter

PHILADELPHIA – Eltern haben wohl vor nichts mehr Angst, als ein Kind durch Unfall oder Krankheit zu verlieren. Und Krebs im Kindesalter hat das größte Potenzial, wenn es darum geht, dass aus einer vagen Angst plötzlich unvorstellbare Realität wird. Als pädiatrischer Onkologe mit über 25 Jahren Erfahrung in der Betreuung von krebskranken Kindern und deren Eltern weiß ich, dass nur Eltern, die mit einer derartigen Diagnose konfrontiert sind, die Tiefe dieser Angst wirklich verstehen, da sie das Wesen des Elternseins in seinem Innersten berührt.

Ich weiß auch, dass wir die Kinder heute wirksamer als je zuvor behandeln – und dass trotzdem noch immer einiges Verbesserungspotenzial besteht.

Für ein in den 1960er Jahren geborenes Kind war die Diagnose mit der häufigsten Krebsform im Kindesalter, der akuten lymphatischen Leukämie (ALL), beinahe ein Todesurteil, da die Überlebensrate bei weniger als 10 Prozent lag.  Heute hat ein Kind mit der gleichen Diagnose eine Heilungschance von über 80 Prozent. Betrachtet man die 5-Jahres-Überlebensrate bei Kindern mit ALL im Zeitraum von den 1970er bis in die 1990er Jahre, ist ein fast linearer Anstieg der Heilungsraten festzustellen.

Dies lässt die 1970er, 1980er und 1990er Jahre wie eine Ära raschen Erkenntnisgewinns und beschleunigter therapeutischer Entwicklungen erscheinen. Doch praktische alle Medikamente, die wir heute zur Therapie der Kinder mit Krebs einsetzen, wurden in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt und zugelassen. Es stellt sich die Frage, was diesen Fortschritt befeuerte, wenn es nicht an neuen Medikamenten lag.   

Eine wesentliche Triebkraft war die bemerkenswerte und nachhaltige wissenschaftliche Zusammenarbeit. In den 1950er Jahren kam eine Gruppe klinischer Wissenschaftler zu folgender  Erkenntnis: Da Krebs bei Kindern eine seltene Erkrankung ist,  konnte kein einzelnes medizinisches Zentrum genügend Patienten untersuchen, um die nötigen Fortschritte im gesamten Spektrum pädiatrischer onkologischer Erkrankungen zu erzielen. Die Entscheidung, die Forschungszusammenarbeit an mehreren Institutionen durchzuführen, mündete in die Entwicklung kollaborativer Gruppenforschung.

Im Kampf gegen den Krebs im Kindesalter führte die Weiterentwicklung dieses Konzept zur Etablierung der Children’s Oncology Group (COG), in der über 8.000 Experten aus mehr als 200 führenden Kinderkrankenhäusern, Universitäten und Krebszentren in ganz Nordamerika, Australien, Neuseeland und Teilen Europas vereint sind. Die COG forscht im gesamten Spektrum der Krebserkrankungen bei Kindern. Gegenwärtig werden ungefähr 100 klinische Studien auf der ganzen Welt durchgeführt.

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Angesichts der damit verfügbaren Infrastruktur im Bereich kollaborativer Forschung, zeugten die  nachhaltigen Verbesserungen der Therapieergebnisse von der wachsenden Einsicht, dass Krebs im Kindesalter vielfältige Formen annehmen kann. Bei ALL im Kindesalter handelt es sich beispielsweise nicht um eine einzige Krankheit, sondern eher um ein ganzes Krankheitsspektrum. Die Erkenntnis dieser Vielfalt führte zur Erforschung unterschiedlicher Behandlungsschemata in verschiedenen Subpopulationen von Kindern mit pathologisch ähnlichen Krebserkrankungen.

Während dieser Phase kam es auch zu dramatischen Verbesserungen hinsichtlich einer der  häufigsten Nebenwirkung der Krebsmedikamente – der Myelosuppression (der Rückgang roter und weißer Blutkörperchen sowie der Blutplättchen). Es begann damit, dass man anämischen Patienten durch Transfusionen nicht nur rote Blutkörperchen, sondern auch Blutplättchen verabreichen konnte, wodurch sich die Bedrohung durch eine lebensbedrohliche Blutung, die eine Krebstherapie begleiten kann, verringerte. 

Von ebensolcher Bedeutung war, dass man zunehmend Arten und Gefahren jener lebensbedrohlichen Infektionen verstand, die eine Myelosuppression begleiten. Dies führte zur Entwicklung und den verbesserten Einsatz wirksamerer Antibiotika. In den 1990er Jahren begann man, Zytokine – Medikamente, die die Bildung infektionsbekämpfender weißer Blutkörperchen im Knochenmark anregen – in die Krebstherapie zu integrieren, wodurch die Gefahr lebensbedrohlicher infektiöser Komplikationen in der Behandlung weiter entschärft wurde. 

Aufgrund der Fortschritte in den Bereichen Wissenschaft und unterstützende Behandlung konnten diese Chemotherapeutika Kindern mit bestimmten Krebstypen und –subtypen in intensivierter Form zur Verfügung gestellt werden. Angesichts dieser selektiven Intensivierung stiegen auch die Heilungsraten stetig an.

Doch obwohl diese Strategie tatsächlich zu besseren Ergebnissen führte, bleibt die akute und langfristige Therapiemorbidität doch beträchtlich. Bei Kindern, die unter sehr gefährlichen Krebsarten leiden und mit dosisinteniver Chemotherapie behandelt werden, liegt die Wahrscheinlichkeit des Eintritts zumindest eines schweren, lebensbedrohlichen oder im Zusammenhang mit Medikamenten fatalen Ereignisses bei über 80 Prozent. 

Zu den Spätfolgen der Krebsbehandlungen zählen bleibende Organ- und Gewebeschäden, hormonelle Störungen und reproduktive Fehlfunktionen sowie Sekundärtumore. Über 40 Prozent der geschätzten 330.000 Überlebenden von Krebs im Kindesalter in den Vereinigten Staaten bekommen es in ihrem späteren Leben mit einer erheblichen gesundheitlichen Komplikation aufgrund ihrer Krebserkrankung im Kindesalter und deren Behandlung zu tun.  Und trotz all unserer Fortschritte, ist Krebs in den Industrieländern die häufigste krankheitsbedingte Todesursache bei über einjährigen Kindern.

Dennoch stehen wir am Beginn eines Zeitalters beispielloser Erkenntnisse. Das uns gegenwärtig zur Verfügung stehende leistungsstarke Forschungsinstrumentarium zur Untersuchung der Grundlagen der Krebserkrankungen im Kindesalter, könnte die Behandlung der unter diesen gefürchteten Erkrankungen leidenden Kinder grundlegend verändern.  Für eine begrenzte Zahl von Krebserkrankungen im Kindesalter stehen neue Medikamente zur Verfügung, die auf die Triebkräfte hinter der Malignität abzielen. Das bemerkenswerteste Beispiel ist die Wirkung von Glivec (Imatinib-Mesylat) bei Kindern mit einem ungewöhnlichen Subtyp von Leukämie – der ALL mit positivem Philadelphia-Chromosom.

Die Anwendung dieses Inhibitors zusätzlich zu intensiver Chemotherapie hat die Prognose dieser Kinder dramatisch verbessert und die ereignisfreie 3-Jahres-Überlebensrate von 35 auf 80 Prozent erhöht. Die Entwicklung zielgerichteter neuer Substanzen wird wahrscheinlich auch die Ergebnisse im Falle anderer Subtypen von Krebserkrankungen im Kindesalter verbessern, wie etwa bei anaplastischem, großzelligen Lyphom und anderen Leukämie-Arten.

Da es sich bei Krebserkrankungen im Kindesalter um seltene bis überaus seltene Krankheiten handelt, sind die Möglichkeiten der biopharmazeutischen Industrie, Ressourcen in die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden zu investieren, bestenfalls begrenzt. Doch Forschung ist notwendig, um mögliche Ansatzpunkte zur Behandlung des gesamten Spektrums der Krebserkrankungen im Kindesalter zu ermitteln. Im Falle manche dieser Ansatzpunkte wird es öffentlich-privater Partnerschaften bedürfen, um neue Therapieansätze zu entwickeln.

Die letzten 40 Jahre haben den bemerkenswerten, in der kollaborativen wissenschaftlichen Forschung möglichen Nutzen dieser Investitionen zu Tage gebracht.  Nun müssen wir die aktuellen wissenschaftlichen Chancen wahrnehmen, um wirksamere und weniger toxische Therapien zu entwickeln und damit die Ergebnisse für alle Kinder mit Krebs zu verbessern.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/nByBswRde