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Chinas ungegangener Weg

NEW YORK – In diesem Monat vor 100 Jahren begann eine der wichtigsten kulturellen und politischen Episoden in der modernen chinesischen Geschichte: die Bewegung vom 4. Mai. Am 4. Mai 1919 leiteten chinesische Studenten und Intellektuelle einen massiven Protest in Peking ein und forderten das Ende des „Feudalismus“ und mehr politische Freiheit. Ein Jahrhundert später wird dieser Tag offiziell von einer kommunistischen Diktatur gefeiert, die keine Proteste gestattet – schon gar nicht solche, die von Studenten angeführt werden. Der 4. Mai inspirierte eine weitere Revolte: die vom Platz des himmlischen Friedens vom April bis Juni 1989, die in der Öffentlichkeit noch nicht einmal erwähnt werden darf.

Doch der 4. Mai ist zu bedeutsam, um ihn zu ignorieren oder zu unterdrücken; daher musste der chinesische Staatspräsident Xi Jinping den Anlass – etwas zaghaft – feierlich begehen, indem er die „chinesische Jugend der neuen Ära“ aufforderte, „in ihren Anstrengungen Mut zu zeigen“ und „dem Geist des 4. Mai“ gerecht zu werden. Zeitgleich wurden studentische Dissidenten an der Universität Peking verhaftet, weil sie subversive Ideen äußerten, die die offiziellen Feierlichkeiten hätten stören können.

Was genau ist der Geist des 4. Mai? Vordergründiger Anlass der Proteste war die Übergabe der deutschen Territorien in Ostchina an die Japaner, so wie sie im Vertrag von Versailles vorgeschrieben und von der chinesischen Regierung akzeptiert worden war. Dies wurde als Schlag gegen den chinesischen Patriotismus und als typisches Zeichen nationaler Schwäche und Korruption angesehen. Doch ging es bei der Bewegung um sehr viel mehr. Wie die europäische Aufklärung, die indirekt als eine seiner Inspirationen diente, repräsentierte der 4. Mai viele unterschiedliche Dinge: freie Liebe, künstlerisches Experimentieren, Feminismus, Sozialismus, Bildungsreformen usw. Die beiden Symbole des 4. Mai waren, so etwa wie 1989 auf dem Platz des himmlischen Friedens die Freiheitsstatue, „Mr. Science“ und „Mr. Democracy“.

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