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Pflege und die moralische Verarmung der Medizin

CAMBRIDGE, MASS.: Die Pflege wird von den Ökonomen als „Belastung“, von klinischen Psychologen als „Bewältigungsprozess“, von Forschern im Bereich der Gesundheitsdienste unter dem Aspekt der Pflegekosten und von Ärzten als Frage klinischer Kompetenz angesehen. Doch für viele Menschen ist Pflege eine grundlegende Komponente moralischer Erfahrung. Sie ist eine Ausübung von Anerkenntnis, empathischer Vorstellungskraft, Bezeugung, Verantwortlichkeit, Solidarität und den konkretesten Formen der Unterstützung. Es ist dieser moralische Aspekt, der dazu führt, dass sich Pflegende und manchmal sogar Gepflegte „präsenter“ fühlen – und damit also menschlicher.

Doch abgesehen von der Krankenpflege durch Fachpersonal, den Reha-Bemühungen von Ergo- und Physiotherapeuten und der praktischen Unterstützung durch Sozialarbeiter und Haushaltshilfen für Kranke hat die zeitgenössische medizinische Praxis, insbesondere was die Opfer von gesundheitlichen Katastrophen und Leiden im Endstadium angeht, mit Pflege relativ wenig zu tun.

Lassen Sie mich Ihnen, um diesen Punkt zu veranschaulichen, meine persönliche Erfahrung als Pfleger meiner Frau schildern, die an einer schweren degenerativen Störung des Nervensystems leidet, welche ihr Gedächtnis und ihre motorischen Fähigkeiten geschädigt hat und so ihre Unabhängigkeit einschränkt. Ich wecke sie morgens auf, helfe ihr beim Toilettengang, Baden und Anziehen, mache uns Frühstück und helfe ihr, sich selbst zu füttern. Ich helfe ihr beim Gehen, beim Hinsetzen auf ihren Stuhl und beim Einsteigen in unserer Auto. Ich bin fast die ganze Zeit bei ihr, um sie vor Verletzungen zu bewahren, denn sie kann weder sehen, noch findet sie sich auf der Straße oder bei uns im Haus zurecht.

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