leonard41_ Simon DawsonGetty Images_brexit protest Simon Dawson/Getty Images

Wenn europäische Politik eine persönliche Dimension bekommt

ATHEN – Auf Europa wird meist in abstrakter Form Bezug genommen, wenn etwa Politiker meinen, dass in einer von Großmächten beherrschten Welt die europäische Souveränität der einzige Weg in Richtung Sicherheit sei. Als sich in den letzten Wochen jedoch der ursprüngliche Brexit-Termin (29. März) näherte, wurde die Idee einer europäischen Identität konkreter; das Politische wurde plötzlich persönlich. Abseits der Kakophonie in den parlamentarischen Auseinandersetzungen über „Backstops” sowie rechtlich bindende und nicht bindende Abstimmungen gibt es etwa 16 Millionen britische Wähler, die sich für einen Verbleib in der EU aussprechen und nun befürchten, ihre EU-Staatsbürgerschaft zu verlieren.   

Zweifellos war ein Teil dieser so genannten Remainers letztes Wochenende bei der Großdemonstration in London im Rahmen der Kampagne „People’s Vote” mit dabei. Mit über einer Million Teilnehmern war diese Veranstaltung die größte öffentliche Bekundung einer proeuropäischen Haltung in den letzten Jahren in Europa. Noch leidenschaftlicher geschwungene EU-Flaggen habe ich nur auf dem Maidan-Platz in der Ukraine im Jahr 2014 und in Zentral- und Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gesehen. Doch während die prodemokratischen Demonstranten von damals von der Rückkehr zu ihrer europäischen Vergangenheit träumten, fürchten die Remainers von heute eine posteuropäische Zukunft.  

Diese Befürchtungen teile ich. Als Kind eines britischen Vaters und einer in Frankreich geborenen deutsch-jüdischen Mutter wuchs ich in Brüssel auf. Meine europäische Identität verlieh der Geschichte meiner Familie Einheitlichkeit und Sinn. Meine Verwandten lebten verstreut in Manchester, Luxemburg, Paris und Bonn und eine der Personen, die mich in meiner Kindheit am stärksten prägten, war meine Großmutter – ein Holocaust-Überlebende, die im Alter von zehn Jahren ihre Eltern verloren hatte. Um der klaustrophobischen Enge ihrer konservativen Erziehung in Würzburg zu entfliehen, brachte sie sich selbst sieben europäische Sprachen bei. Und am Ende ihres Lebens bekämpfte sie ihre quälenden altersbedingten Schmerzen mit der Rezitation auswendig gelernter Gedichte von Dante, Heine, Keats, Kipling und Wordsworth.

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