krauss52_LUDOVIC MARINAFP via Getty Images_ macron us LUDOVIC MARIN/AFP via Getty Images

Der Macron-Faktor

STANFORD – Mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron haben die Vereinigten Staaten den besten Verbündeten, den sie sich im Élysée-Palast wünschen können. Tatsächlich könnte Macron jetzt der einzige verbündete Staatschef der USA sein, dessen liberal-internationalistische Weltanschauung der von US-Präsident Joe Biden entspricht.

Bidens Aussichten auf einen wirklich verlässlichen Partner in Europa sind gerade leider eher gering. Der britische Premierminister Boris Johnson mag sich für die Wiedergeburt Winston Churchills halten, aber solange er an der Macht ist, werden es seine Trump’sche Ausmaße besitzende Verlogenheit und sein erratisches Politikverständnis der Biden-Administration im Grunde unmöglich machen, auf die alte „besondere Beziehung” zu bauen.

Deutschland hatte sich in den letzten Jahren zunehmend als Amerikas wichtigster Verbündeter in Europa erwiesen, dank seiner wirtschaftlichen Stärke und der kühlen, überlegten Führung unter Kanzlerin Angela Merkel. Aber Merkels 15-jährige Kanzlerschaft geht dieses Jahr im Herbst zuende, und das wird zweifellos das strategische Kalkül verändern.

In Anbetracht dessen hat Philip Stephens von der Financial Times nicht unrecht, wenn er vorschlägt, dass „Biden sich auf der Suche nach einem verlässlichen europäischen Partner besser an Amerikas ältesten Verbündeten wenden sollte”: Frankreich. Während Merkel „ihresgleichen suche, wenn es um kühne Erklärungen über die Aufrechterhaltung der Demokratie, die Einhaltung der multilateralen Regeln und die Achtung der Menschenrechte geht”, wird sie (oder vermutlich ihr Nachfolger) auch nicht zulassen, dass diese Bedenken „Deutschlands wirtschaftliche Interessen bedrohen - nicht zuletzt seine Geschäftsbeziehungen mit China und Russland.”

Mit einem Engagement für Frankreichs wirtschaftlichen Aufschwung, das dem von Merkel in Deutschland entspricht, bietet Macron auch etwas, was sie nicht hat: nämlich eine klare, realistische Einschätzung der Welt und der Herausforderungen, vor denen der Westen steht. Anders als jeder andere westliche Regierungschef hat Macron nicht nur die globalen Machtverschiebungen verstanden, sondern auch eine weitsichtige Militärreform-Agenda initiiert, um diesem neuen Zeitalter der Unsicherheit Rechnung zu tragen. Er hat verstanden, dass Frankreich nicht nur eine höhere militärische Bereitschaft braucht, sondern auch eine aktualisierte Militärdoktrin, und hat das Land nun auf den Weg gebracht, seine Zusage gegenüber der NATO- zu erfüllen, 2 Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben.

Aber Macron, der von der Pandemie gebeutelt wurde, steht im April nächsten Jahres vor einer schwierigen Präsidentschaftswahl. Obwohl er einen Vorsprung vor seiner Hauptkonkurrentin Marine Le Pen von der rechtsextremen Nationalen Sammlungsbewegung hat, ist nicht zu leugnen, dass es ein enges Rennen werden könnte. Biden ist sich darüber im Klaren, dass ein Sieg Le Pens eine Katastrophe für das transatlantische Bündnis, die Europäische Union und letztlich die USA wäre. Der Westen würde Donald Trump in Washington gegen seinen weiblichen Doppelgänger in Paris eintauschen. Der große Gewinner wäre wieder einmal der russische Präsident Wladimir Putin, denn Le Pen - deren Partei Kredite von russischen Banken erhalten hat - würde sich sicherlich daran machen, sowohl die NATO als auch die EU zu zerstören.

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Für die USA ist es also an der Zeit zu handeln. Das erste und beste, was die Biden-Administration tun könnte, um Macrons Ansehen zu stärken, ist, sofort mehr Impfdosen nach Frankreich zu schicken. Es wäre ein großer Erfolg für Macron, wenn er einen Deal für eine zuverlässige Versorgung mit Impfstoffen aushandeln könnte. In der Tat bietet die Pandemie eine Gelegenheit für den amerikanischen Einfallsreichtum, sich in den Dienst sowohl der inneren als auch der Sicherheitsinteressen der USA zu stellen. Biden sollte sie ergreifen.

Darüber hinaus liegen Biden und Macron in einer Reihe von wichtigen wirtschaftlichen Fragen eng beieinander. Während Biden Steuergelder von Big-Tech-Firmen zurückfordern will, fordert Macron dasselbe innerhalb der OECD, und sein Finanzminister Bruno Le Maire führt zu diesem Zweck seit Jahren Gespräche mit den USA.

Solange Trump an der Macht war, liefen diese französischen Bemühungen meist ins Leere. Aber jetzt ist ein neuer Grand Bargain realistisch geworden. Erst diesen Monat drückte Le Maire die Hoffnung aus, dass „wir mit [US-Finanzministerin] Janet Yellen auch bei der Besteuerung digitaler Dienstleistungen vorankommen können, um im Sommer ein umfassendes Abkommen auf der Ebene der OECD zu schließen.” Und sein deutscher Amtskollege Olaf Scholz fügte hinzu: „Es ist nun realistisch zu erwarten, dass wir in diesem Jahr eine Einigung über ein internationales Rahmenwerk für einen Mindeststeuersatz für Unternehmen sowie eine bessere Besteuerung der digitalen Wirtschaft erzielen werden.”

Bis jetzt war der Knackpunkt der Widerstand der USA, andere Länder die Umsätze besteuern zu lassen, die Big-Tech-Unternehmen in ihren Ländern generieren. Aber jetzt, wo die Biden-Administration ein globales Abkommen zur Unternehmensbesteuerung abschließen muss, könnte sie diesen Punkt einräumen und dem Staatschef, der sich für eine Steuer auf digitale Dienstleistungen einsetzt, einen Sieg anbieten: Macron.

Wenn sich die USA und Frankreich auf einen globalen Mindeststeuersatz für Unternehmen einigen können, wird die OECD wahrscheinlich mitziehen; und wohin die OECD geht, wird die Welt folgen. Auf diese Weise könnte ein globaler „Grand Bargain” den Steuereinnahmen der USA in einem kritischen Moment einen großen Schub verleihen und einen bedeutenden politischen Sieg für Macron darstellen, der (von der extremen Linken und der extremen Rechten) oft zu Unrecht als Werkzeug des Großkapitals dargestellt wird.

Aus dem Englischen von Eva Göllner

https://prosyn.org/oZGKoyade