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China sollte sich Taiwans Tech-Politik zum Vorbild nehmen

HONGKONG – Ma Ying-jeou, der von 2008 bis 2016 Taiwans Präsident war, hat im vergangenen Jahr als erster ehemaliger oder amtierender taiwanesischer Staatschef das chinesische Festland besucht und ist nun im April erneut nach China gereist. Sein elftägiger Besuch, zu dem auch ein Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping gehörte, ist nicht nur von Bedeutung, weil er die historischen und kulturellen Verbindungen beider Seiten hervorhebt, sondern auch, weil er die Aufmerksamkeit der chinesischen Regierung auf Bereiche lenkt, in denen sie von Taiwan lernen und in denen sie mit Taiwan kooperieren kann.

Als kleine Insel mit wenigen natürlichen Ressourcen behauptet sich Taiwan wirtschaftlich gegen erheblich stärkere Konkurrenten. Von 1980 bis 2008 lag das jährliche reale BIP-Wachstum Taiwans bei durchschnittlich 6,8% und damit deutlich über dem Durchschnitt der OECD-Länder von unter 2%. Nach der globalen Finanzkrise 2008 verlangsamte sich das Wachstum zwar, stabilisierte sich aber relativ schnell wieder. Heute belegt Taiwan mit einem BIP in Höhe von 803 Milliarden US-Dollar Platz 22 unter den größten Volkswirtschaften der Welt und rangiert in Bezug auf die Kaufkraftparität pro Kopf auf Platz 14. Das Pro-Kopf-BIP Taiwans in Kaufkraftparität lag im vergangenen Jahr bei 73.000 US-Dollar, verglichen mit nur 3.500 Dollar im Jahr 1980.

Obendrein floriert der taiwanesische Aktienmarkt. Ende letzten Jahres belief sich die gesamte Börsenkapitalisierung auf 241,4% des BIP und war somit wesentlich höher als in Festlandchina (61,3%), Südkorea (114,4%), Japan (146,6%) und sogar in den Vereinigten Staaten (158,4%). Die 1.001 börsennotierten Unternehmen Taiwans weisen ein durchschnittliches Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 24,6 auf und lassen chinesische Unternehmen (9,08) deutlich hinter sich.

Ein einziges Unternehmen, die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC), macht ein Drittel des Gesamtwerts des Aktienmarktes aus. Taiwan dominiert die weltweite Halbleiterindustrie und liefert über 60% der weltweiten Halbleiter und mehr als 90% der modernsten Chips – die überwiegende Mehrheit davon wird von TSMC hergestellt.

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis des Unternehmens ist mit 26,34 besonders hoch. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis der sieben größten chinesischen Technologieunternehmen (Baidu, Alibaba, Tencent, CATL, BYD, Foxconn und Xiaomi) liegt bei lediglich 17,70. Zusammen haben diese Firmen einen Börsenwert von 971,89 Milliarden Dollar, verglichen mit 718,40 Milliarden Dollar allein für TSMC.

Der Aufstieg Taiwans zu einer führenden globalen Technologiemacht war kein Zufall. In den 1980er-Jahren, nach zwei Ölkrisen, wurde Taiwans Wirtschaft von strukturellen Problemen heimgesucht. Als sich der chinesische Markt öffnete, verringerte sich der Wettbewerbsvorteil der Insel durch niedrige Löhne. Zusammen mit der amerikanischen Entscheidung von 1988, die besonderen Handelspräferenzen für Taiwan sowie für Hongkong, Singapur und Südkorea zu beenden, führte dies dazu, dass sich Taiwans durchschnittliches jährliches Exportwachstum drastisch verlangsamte: von 26% in den Jahren 1971-80 auf nur noch 9,44% in den Jahren 1981-90.

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Zu diesem Zeitpunkt verfolgte Taiwan unter Präsident Chiang Ching-kuo jedoch bereits ein Wirtschaftsreformprogramm, das auf „wirtschaftlicher Liberalisierung, Globalisierung und Systematisierung“ basierte. So lockerte die Regierung etwa die Devisenkontrollen, privatisierte Banken und ermöglichte ausländischen Banken die Ausweitung ihrer Geschäftstätigkeit in Taiwan.

Taiwan gründete 1980 zudem den Hsinchu Science Park nach dem Vorbild des Silicon Valley, um ein Ökosystem für Grundlagenforschung und technologische Innovation zu schaffen. Seit letztem Monat sind dort fast 600 Unternehmen ansässig, darunter Telekommunikations-, Optoelektronik-, Präzisionsmaschinen- und Biotechnologiefirmen.

Taiwans Bemühungen, seine High-Tech-Industrie zu fördern, waren eindeutig erfolgreich. Im Jahr 1984 erreichten Taiwans Exporte elektronischer Produkte ein Volumen von fast 6,6 Milliarden Dollar und übertrafen damit die Textilexporte im Wert von 6,1 Milliarden Dollar. Im Jahr 1989 belief sich Taiwans Anteil an der weltweiten Produktion von Personal Computern auf 25%. Und innerhalb weniger Jahrzehnte würde die Insel die weltweite Halbleiterindustrie kontrollieren.

Die taiwanesische Regierung setzt auch heute weiter auf die Förderung der wirtschaftlichen Dynamik. So zielt etwa ihr „Statut für industrielle Innovation“ darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit durch Maßnahmen wie steuerliche Anreize, direkte staatliche Investitionen und Unterstützung für die Ausbildung von Fachkräften zu stärken.

Gleichzeitig verfolgt Taiwan eine umsichtige Fiskal- und Geldpolitik. Die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP beträgt lediglich 25% – ein Viertel des OECD-Durchschnitts. Und mit Stand vom März 2024 verfügt Taiwan über die fünftgrößten Devisenreserven der Welt (568,1 Milliarden Dollar) und rangiert damit lediglich hinter China, Japan, der Schweiz und Indien.

Die Erfahrungen Taiwans bieten wertvolle Lehren für China. Die vielleicht wichtigste betrifft die „Finanzialisierung der Innovation“, bei der Technologieinvestitionen durch Risikokapital vom Aktienmarkt und nicht durch das risikoscheue Bankensystem finanziert werden.

In Taiwan führte dieser Prozess zu einem positiven Kreislauf aus technologischem Fortschritt und Aktienkursgewinnen. Vom 1. April 2003 bis zum 1. April 2024 wuchs der Taiwan Weighted Index ‒ der Aktienindex der 100 größten börsennotierten Unternehmen in Taiwan ‒ im Durchschnitt um 8,55% pro Jahr. Das ist wesentlich schneller als der durchschnittliche jährliche Anstieg des Shanghai Composite Index von 3,77% im gleichen Zeitraum und liegt nur geringfügig unter den jährlichen Wachstumsraten in Höhe von 10% für die NASDAQ und den S&P 500 in den USA.

Die Förderung eines ähnlich positiven Kreislaufs in China ist zu einer dringenden Priorität geworden. Heute trägt der Immobiliensektor satte 30% zum chinesischen BIP bei. Dies macht China anfällig für Zinserhöhungen in den USA. Darüber hinaus schrumpfen die Immobilienmärkte in der Regel, wenn die Bevölkerung altert, und Chinas Bevölkerung altert schnell. Durchbrüche in der künstlichen Intelligenz könnten die Verluste im Immobiliensektor ausgleichen und das künftige Wachstum ankurbeln, aber die Finanzierung von KI-Investitionen erfordert einen Aktienmarkt, der in der Lage ist, risikoreiche Positionen in neuen Technologien einzugehen.

Taiwan hat China mehr als nur Inspiration zu bieten. Taiwanesische Unternehmer gehörten zu den ersten, die in die Modernisierung des chinesischen Produktions- und Einzelhandelssektors investierten – eine Anstrengung, die für beide Seiten enorm vorteilhaft war. In ähnlicher Weise kann technologische Zusammenarbeit zwischen Taiwan und China heute taiwanesischen Unternehmen Größenvorteile und Marktzugang bieten und gleichzeitig die dringend benötigte Finanzialisierung von Innovationen auf dem Festland vorantreiben.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

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