roach164_PEDRO PARDOPEDRO PARDOPOOLAFP via Getty Images_china development forum PEDRO PARDO/POOL/AFP via Getty Images

China erstickt die Debatte im Lande

NEW HAVEN: Seit meiner jüngsten Reise nach Peking zur Teilnahme am 25. jährlichen China Development Forum (CDF) – der wichtigsten öffentlichen Konferenz des Landes – geht mir eine Frage nicht aus dem Kopf: Welchen Sinn soll das haben?

Ich werfe diese Frage als CDF-Insider auf; ich bin der am längsten teilnehmende ausländische Konferenzteilnehmer und war bei allen außer dem allerersten CDF im Jahr 2000 dabei. Ich habe diese Veranstaltung von ihrer besten und schlimmsten Seite erlebt. Und ich kann mit Sicherheit sagen, dass die diesjährige Veranstaltung einen neuen Tiefpunkt markiert hat – daher meine Frage.

Der ehemalige Ministerpräsident Zhu Rongji gründete das CDF als Forum für Debatten und den Austausch zwischen führenden chinesischen Politikern und ausländischen Wissenschaftlern, Thinktank-Experten und Wirtschaftsführern. Der Zeitpunkt der Konferenz – unmittelbar nach dem Nationalen Volkskongress – war bewusst gewählt: Zhu vertrat die provozierende Ansicht, dass die Minister des Staatsrates unmittelbar nach ihren internen Beratungen auf dem Volkskongress in den Dialog mit ausländischen Experten eintreten sollten. Es war faktisch ein Stresstest für leitende chinesische Partei- und Regierungsvertreter.

Zhu praktizierte, was er predigte. Auf meinem ersten CDF im Jahr 2001 – einer viel kleineren und intimeren Versammlung – hielt ich mittags ein Grundsatzreferat über den Zustand der Weltwirtschaft, in dem ich argumentierte, dass nach dem Dotcom-Boom nun ein Abschwung bevorstehe. Fred Bergsten, der Gründungsdirektor des Petersen Institute for International Economics, stellte das in der anschließenden Diskussion in Frage. Auf der Abschlusssitzung des CDF von 2001 unterbrach Zhu den Chairman von HSBC John Bond bei dessen Zusammenfassung der dreitätigen Veranstaltung forderte stattdessen mich und Bergsten auf, unsere Ansichten noch einmal kurz zu wiederholen. Zhu war mehr an der Debatte interessiert als an Bonds Kommentar.

Nach der Sitzung nahm Zhu mich zur Seite und äußerte in perfektem Englisch: „Roach, ich hoffe, Sie haben Unrecht, aber wir werden planen, als ob Sie Recht hätten.“ Auf dem CDF des folgenden Jahres begrüßte er mich herzlich mit einem simplen „Danke“.

Es ist in diesem Geiste und im Geiste der vielen folgenden Jahre aktiver Teilnahme an den CDF-Sitzungen, dass ich den Verlust der einstmals lebhaften Debattenkultur in China beklage. Das CDF wurde als offene und ehrliche Plattform des Dialogs faktisch ausgeschaltet. Von oben wurde deutlich gemacht, dass es nur Raum für „gute Geschichten über China“ gäbe. Wer Fragen über Probleme oder gar Herausforderungen aufwirft, dem droht der Ausschluss von den öffentlichen Sitzungen.

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Das gilt sicherlich für mich. Im Vorfeld des diesjährigen CDF informierte man mich von maßgeblicher Seite, dass meine jüngsten Kommentare über die chinesische Wirtschaft „intensive Beachtung und sogar Kontroversen“ in der chinesischen und internationalen Presse ausgelöst hätten, was vermuten ließe, dass alles, was ich auf der Konferenz öffentlich sagen würde, von den Medien „fehlinterpretiert und sogar aufgebauscht werden wird“. Man machte mir deutlich, dass dies nicht in meinem – oder Chinas – Interesse wäre.

Es war also keine Überraschung, dass ich erstmals seit 24 Jahren kein Referat halten sollte. Zudem wurde mein Hintergrunddokument zur Neuausrichtung der chinesischen Wirtschaft, das zu erstellen ich im Rahmen der CDF Engagement Initiative eingeladen worden war, weder veröffentlicht noch verteilt, so wie das bei auf Einladung eingereichten Beiträgen sonst immer der Fall gewesen war.

Auch war ich nicht der Einzige: Ein befreundeter Ökonom, den ich seit Jahren kenne und schätze, wurde, bevor er aufs Podium kam, angewiesen, nichts Negatives über die wirtschaftlichen Aussichten von sich zu geben.

Politische Korrektheit kann schlimm genug sein. Zensur und der Versuch der Gedankenkontrolle jedoch mit dem Ziel, eine Debatte zu ersticken, sind etwas komplett anderes. Das rief bei mir ein resigniertes Gefühl scheinbarer Sinnlosigkeit hervor. Warum sollte man sich überhaupt noch die Mühe machen?

Meine Antwort hierauf ist sowohl idealistisch als auch zugegebenermaßen naiv. Ich flog Ende März nach Peking in der Hoffnung, dass sich das CDF einen Splitter seines ursprünglichen Geistes bewahren würde. Wie in meinem Buch Accidental Conflict beschrieben bin ich mir der Veränderungen der letzten Jahre innerhalb des chinesischen Diskurses völlig bewusst. Doch selbst unter Berücksichtigung der jüngsten Bemühungen der chinesischen Behörden, das Narrativ stärker zu kontrollieren, hielt ich an der Hoffnung fest, dass noch immer Platz für empirische Forschung und Analyse sein könnte. Schließlich war ich Chinas „guter Freund“. Mein Fehler war, anzunehmen, dass dieser scheinbare Sonderstatus es mir erlauben würde, unbequeme Fragen über Chinas mittel- bis längerfristige Wachstumsaussichten aufzuwerfen.

Das CDF 2024 versperrte dieser Möglichkeit die Tür. Die diesjährige Veranstaltung verlief streng nach Drehbuch, ohne Debatte oder echten Austausch von Ansichten selbst an den kleineren, für den Dialog vorgesehenen Runden Tischen. Zwar waren eine Menge westlicher Wirtschaftsführer anwesend, aber überwiegend, um mit ihrem Engagement in China schamlos kommerzialisierte Eigenwerbung zu betreiben. Zudem hatte die gestutzte Konferenz eine geglättete Agenda. Das normalerweise große Beachtung findende Zeitfenster am Montagmittag blieb leer, während die Abschlusssitzung des Ministerpräsidenten durch eine Eröffnungsansprache ersetzt wurde, die den Arbeitsbericht nachbetete, den er am 5. März auf dem Volkskongress vorgestellt hatte.

Es macht mich traurig, zuzusehen, wie sich das CDF zu einem traurigen Überrest seiner selbst entwickelt. Meiner Bewunderung für das chinesische Volk und die außergewöhnliche Transformation der chinesischen Volkswirtschaft der vergangenen 45 Jahre tut das freilich keinen Abbruch. Ich stimme der Konsensansicht im Westen, dass das chinesische Wunder schon immer zum Scheitern verurteilt war, nach wie vor nicht zu. Zudem sehe ich Amerikas virulente Chinafeindlichkeit nach wie vor höchst kritisch, und ich halte an der Ansicht fest, dass China vor ernsten strukturellen Wachstumsherausforderungen steht. Und ich glaube weiterhin, dass die gegenseitige Abhängigkeit der USA und Chinas voneinander ein Rezept für eine beiden Seiten dienende Konfliktbeilegung bietet. Meine Agenda bleibt analytisch bestimmt, nicht politisch motiviert.

Letztlich beabsichtige ich, weiter am CDF teilzunehmen. Im Geiste des Credos von Deng Xiaoping, „faktengestützt nach Wahrheit zu streben“, werde ich weiter auf eine freie und offene Debatte in China drängen. Ich gebe nicht auf. Darin letztlich liegt der Sinn des Ganzen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/r9GaCAZde