Deutsche Außenpolitik: Nichts Neues?

MÜNCHEN – Zweieinhalb Monate nach der Bundestagswahl hat Deutschland noch immer keine neue Regierung. Doch obwohl sich die an die Wahlen anschließenden Koalitionsverhandlungen ungewöhnlich lange hinzogen, gibt es zwischen den Parteien in der Außen- und Sicherheitspolitik kaum größere Meinungsverschiedenheiten.

Tatsächlich hatte die Arbeitsgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik ihre Arbeit schon seit zwei Wochen beendet, als CDU und SPD ihren Koalitionsvertrag am 27. November endlich vorlegten. Abgesehen von ein paar kleineren Punkten, die zu Hause einen stärkeren Widerhall finden als bei Deutschlands Partnern in Europa und weltweit (etwa, dass die Regierung in Zukunft bei Waffenexporten an autokratische Regime zu mehr Transparenz verpflichtet werden soll), bleiben Kontinuität und Vorsicht die Schlagwörter der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

Beobachter mögen darüber streiten, ob diese Haltung ein willkommenes Signal der Verlässlichkeit darstellt oder einen beklagenswerten Mangel an diplomatischem Ehrgeiz widerspiegelt. Wer auf eine wesentlich aktivere deutsche außenpolitische Führungsrolle gehofft hat, könnte also von der neuen Regierung durchaus enttäuscht werden.

Große Ideen, oder auch nur große Fragen, fehlen im Koalitionsvertrag. Dies spiegelt die Ansichten vieler Deutscher über sich selbst und ihre Zukunft wider: Sie fühlen sich mit dem Status quo wohl, sehen keine Notwendigkeit für weitere EU-Erweiterungsschritte oder Reformvorschläge, haben kein Interesse an großen strategischen Fragen und würden es im Großen und Ganzen vorziehen, in Ruhe gelassen zu werden.

Man denke etwa an die deutsche NATO-Politik. Sukzessive Bundesregierungen haben erklärt, dass das Bündnis der Ort sein sollte – oder gar sei –, um über wichtige Sicherheitsherausforderungen zu beraten und zu entscheiden. Doch war Deutschland bisher gelegentlich eher abgeneigt, die Behandlung kritischer Krisenthemen im NATO-Hauptquartier vorzuschlagen. Und was militärische Einsätze jenseits des Bereiches angeht, den der Koalitionsvertrag als „unsere geografische Nachbarschaft“ bezeichnet, wird sich die neue Regierung vermehrt dafür einsetzen, regionale Organisationen in die Lage zu versetzen, diese Aufgaben zu wahrzunehmen. Man kann das auch Risikoreduzierung nennen.

Oder man denke an die Frage des EU-Beitritts der Türkei. Die anhaltende Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern wird eine proaktivere Rolle Deutschlands kaum zulassen. Stattdessen wird die Kompromisslösung lauten: pacta sunt servanda, also relativ lauwarm weiter wie bisher.

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Gleichzeitig sind in dem Koalitionsvertrag aber doch einige interessante neue Perspektiven erkennbar. Zunächst einmal wird die strategische Orientierung der USA auf den asiatisch-pazifischen Raum als Chance für Europa beschrieben, eine Außenpolitik zu verfolgen, die auf eine kooperative Sicherheitsarchitektur in dieser Region hinzielt.

Zudem verspricht der Koalitionsvertrag, dass die Regierung anknüpfend an den EU-Gipfel im Dezember „neue Initiativen zur Stärkung und Vertiefung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ergreifen“ wird. Dies beinhaltet u.a. die Forderung nach einer jährlichen Sitzung des Europäischen Rates zum Thema Sicherheit und Verteidigung sowie einer strategischen Diskussion über das Ziel der EU-Außenbeziehungen. Darüber hinaus wird die Bundesregierung die europäische Verteidigungsintegration unterstützen und die Gründung einer europäischen Armee als langfristiges Ziel beibehalten. Dies mag für die Praxis nicht viel bedeuten, doch ist die Sprache in diesem Abschnitt erfreulich deutlicher als an anderen Stellen.

Und schließlich geht der Koalitionsvertrag auf die Sorgen mancher Partner ein, ob Deutschland in einer potenziell stärker integrierten EU-Verteidigungsorganisation ein verlässlicher Partner bei NATO- und EU-Militäreinsätzen sein kann. Gemäß Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 entscheidet der Bundestag über den Einsatz von Soldaten im Ausland. Die Sorge ist, dass Deutschlands Partner kaum einer weitergehenden Integration ihrer Streitkräfte zustimmen würden, wenn der Bundestag ein uneingeschränktes Veto bei militärischen Einsätzen behielte.

Die Koalitionspartner sind sich zwar über die Dringlichkeit der Lösung dieser Frage uneinig. Trotzdem haben sie vereinbart, dass eine Kommission innerhalb eines Jahres verschiedene Optionen und Modelle zum Schutz der Rechte des Bundestages ausarbeiten soll, die zugleich Deutschlands europäischen Partnern Sicherheit gibt, dass Deutschland bei Einsätzen zuverlässig seinen Beitrag leisten kann.

Sollte die SPD, die Anfang Dezember über den Koalitionsvertrag abstimmt, die Bildung der neuen Regierung blockieren (was zwar sehr unwahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen ist), wäre dies sicher nicht auf Streitigkeiten in der Außenpolitik oder in Sicherheits- und Verteidigungsfragen zurückzuführen. Abgesehen von ein paar kleineren Einzelheiten herrscht hier ein erfreulicher Grundkonsens.

„Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden“, erklärte jüngst Bundespräsident Joachim Gauck. „Aber ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen.“ War das eine Absage an die bisher oft und manchmal an den falschen Stellen beschworene "Politik der militärischen Zurückhaltung"?

Ob deutsche Außenpolitik mehr leisten könnte oder sollte, ist ja seit einiger Zeit eine aus dem Ausland immer häufiger gestellte Frage. Zu einem gewissen Grad wird die neue Koalition diesem Druck nachgeben und ihre Bereitschaft zeigen wollen, europäisch und international mehr Initiativkraft und Führungsverantwortung zu übernehmen. Aber sie wird das ganz langsam und vorsichtig angehen.

Außenpolitisch werden jedenfalls von Deutschland keine Überraschungen zu erwarten sein. Bedenkt man, wie schwierig es für die EU insgesamt und für viele unserer EU-Partner war, die existentiellen Herausforderungen der letzten fünf Jahre zu bewältigen, ist dies eigentlich eine sehr positive Nachricht.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/OJCyv6lde