Syriens Kultur der Furcht und des Stillstands

Es ist nicht verwunderlich, dass es dem neuen, jungen Führungskopf eines arabischen Landes während seiner ersten Jahre im Amt äußerst wichtig ist, seine Legitimität und sein Format zu festigen. Als Nachfolger seines Vaters, des verstorbenen Präsidenten Hafiz al-Assad, musste Syriens heutiger Staatspräsident Bashar al-Assad -mehr noch als die anderen relativ neuen arabischen Führer wie etwa Jordaniens König Abdullah oder Marokkos König Muhammad- eilends beweisen, dass er die Kontrolle über die Lage seines Landes besitzt. Denn als innerhalb von Minuten nach Assads Tod am 10. Juni 2000 die Wahl auf Bashar al-Assad als Nachfolger seines Vaters fiel, war Syriens gesamtes System, trotz der jahrelangen Vorbereitung der öffentlichen Meinung auf seine Amtsübernahme, wie benommen.

Da es dem jungen Präsidenten nicht gelungen war, ein klares und effektives Programm für interne Reformen vorzustellen, versuchte er sein innenpolitisches Scheitern im Bereich Außenpolitik wieder gutzumachen. Hier bot sich, wenig überraschend, der fortdauernde arabisch-israelische Konflikt als sichtbarste Gelegenheit, seine Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen; insbesondere nach der demokratischen Wahl Ariel Sharons zum neuen Premierminister Israels, eines Mannes, der in der arabischen Welt geschmäht wird.

Während der jüngsten arabischen Gipfelkonferenz in Beirut machte sich der junge Präsident die Abwesenheit der ägyptischen, lybischen und palästinensischen Führer (um nur einige zu nennen) zu Nutze und traf den richtigen Ton mit der Öffentlichkeit in Syrien und der arabischen Welt. In einer gründlich einstudierten, selbstsicheren Art und Weise, die an seinen verstorbenen Vater erinnert, wendete sich Bashar al-Assad mit einem provozierenden Vortrag an seine Kollegen, in dem er das «Recht auf Widerstand» der Palästinenser unterstützte, die arabischen Staaten dazu aufrief, ihre Beziehungen zu Israel abzubrechen, auf eine Versöhnung zwischen dem Irak und Kuwait drängte und die Friedensbemühungen des saudischen Kronprinzen Abdallahs billigte.

Durch diese Forderungen wurde der junge Präsident in den Augen vielen Syrer zum «Mann der Stunde» der Gipfelkonferenz, zu einem Führer mit umfassendem Verständnis der vorliegenden Probleme. Durch sein überzeugendes Auftreten hat der neue Präsident an Format gewonnen. Wichtiger noch ist, dass sein Auftreten die Aufmerksamkeit von möglichen Erwägungen wirtschaftlicher oder politischer Reformen innerhalb Syriens abgelenkt hat, im Moment jedenfalls.

Anfänglich war Präsident Bashars Machtübernahme von einem bescheidenen aber merklichen politischem Tauwetter begleitet. Rasch entstanden überall in Syrien öffentliche Foren und private Debattierclubs, die einen relativ offenen Meinungsaustausch ermöglichten. Nach einigen Monaten wurden diese öffentlichen Foren abrupt gestoppt, als Sicherheitskräfte eine Reihe strikter Vorschriften durchsetzten, die diese offenen Versammlungen wirksam beendeten. Die Kürze dieses syrischen «Frühlings» war ein harter Schlag für die Erwartungen vieler der Intellektuellen und Berufstätigen des Landes, der jungen wie der alten.

Dieser Schlag war umso schmerzhafter als deutlich wurde, dass die Beschneidung dieser öffentlichen Foren keine umfassenden öffentlichen Reaktionen hervorrief. Die zwangsläufige Erkenntnis der syrischen Intellektuellen, dass sie einmal mehr von der neuen Regierung marginalisiert würden, veranlasste sie dazu, ihre Aufmerksamkeit auf Sharon und die wachsenden Auseinandersetzungen zwischen den Israelis und Palästinensern zu richten. Anstatt ihr Augenmerk auf die innere Situation Syriens zu richten, wurde die palästinensische Sache erneut zu einem Ersatz für die syrischen Intellektuellen und Berufstätigen und bot einen politisch sicheren Weg, ihrer Frustration Luft zu machen.

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Der syrischen «Straße», dieser amorphen Mischung aus Durchschnittsbürgern und öffentlicher Einhelligkeit, mangelte es nicht nur an Sympathie für die Intellektuellen, sondern auch an systematischem Interesse an der Innenpolitik. Es scheint, die größten Sorgen des durchschnittlichen Syrers sind die eindeutige Verbesserung des Lebensstandards und die Verringerung der hohen Arbeitslosenquote.

Weiterführende Reforminteressen -Bürgerrechte, Frauenrechte und die Rolle der Religion in der Gesellschaft - bleiben weiterhin Themen, die auf der syrischen Straße tunlichst vermieden werden. So oder so, sind die Beschränkungen in diesen Bereichen stillschweigend vorausgesetzte Konstanten des syrischen Lebens. Es ist keine erfreuliche Aussicht, sich diesen Beschränkungen in schwierigen und unsicheren Zeiten entgegenzustellen.

Die Passivität der syrischen Gesellschaft ist das Ergebnis einer stillschweigenden Vereinbarung zwischen Volk und Staat. Der Staat mischt sich nicht allzu sehr in gesellschaftliche Angelegenheiten ein, und das Volk kümmert sich nicht allzu sehr um innenpolitische Belange. Währenddessen dient der arabisch-israelische Konflikt als gemeinsam vereinbarter Treffpunkt für Syriens Regierende und Regierte.

Um die Unterdrückung der Grundrechte zu ignorieren, wird dieser Konflikt als Vorwand quer durch die syrische Gesellschaft in kraftvoller nationaler und religiöser Rhetorik geschildert. Was sonst als politischer Konflikt angesehen werden könnte hat bedeutungsvolle soziokulturelle Dimensionen angenommen.

Deshalb ist es gerechtfertigt die Frage zu stellen, ob Syriens Präsident mit wirklicher Initiative gegenüber dem arabisch-israelischen Konflikt handeln kann. Trotz der diktatorischen Natur seiner Herrschaft, muss Präsident al-Assad die öffentlichen Ansichten in Bezug auf Israel bedienen. Durch Untreue diesem Konsens gegenüber, bestünde die Gefahr, die Menschen im Interesse von anderen, innenpolitisch orientierten Belangen aktiv werden zu lassen. Dies ist das Risiko der Mobilisierung der Öffentlichkeit überhaupt im Nahen Osten; Syrien weist lediglich eine ausgeprägtere Variante auf.

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