Indiens China-Syndrom

Cambridge: Es könnte durchaus sein, daß Indien in den kommenden Jahren ein von der Weltöffentlichkeit kaum vermutetes Kapitel in der Geschichte der Weltwirtschaft schreibt. Bislang war das Land, ungeachtet einer Einwohnerzahl von etwa 1 Milliarde Menschen – immerhin ein Sechstel der Weltbevölkerung – und auch unbeschadet der Tatsache, daß Indien der Welt größte Demokratie ist, auf den Radarschirmen der meisten der Weltwirtschaftsbeobachter allerdings nicht in Erscheinung getreten. Das mag sich bald ändern, denn Indien ist in Bewegung gekommen. Bleibt das Land auf dem bisher verfolgten Reformkurs, dann hat es alle Aussicht, binnen weniger Jahre zu den Ländern mit dem rapidesten Wirtschaftswachstum in der Welt zu gehören. Ineins mit dem wirtschaftlichen Erfolg wird Indiens politischer Einfluß in der Welt zunehmen, und das ist gut für die Sache der Demokratie und gut für die Weltwirtschaft.

Daß Indiens Bedeutung in der Welt bislang eher gering einzuschätzen ist, kann nicht überraschen. Nach der Unabhängigkeit des Landes vor einem halben Jahrhundert, brachte Indiens erster Premierminister, Jawaharlal Nehru, sein Land auf einen Kurs des Protektionismus und Sozialismus und verordnete ihm damit gerade jene Wirtschaftsstrategien, die sich als die größten Irrtümer der Neuzeit erwiesen haben. Für ein Land wie Indien, das einen jahrzehntelangen Kampf gegen den britischen Imperialismus hinter sich hatte, schienen allerdings weder der Kapitalismus noch die Öffnung für ausländische Investoren einen vernünftigen und gangbaren Weg anzuzeigen. Während Indien in Wissenschaft und Agrartechnik sowie beim Aufbau demokratischer Institutionen bedeutende Fortschritte erzielte, blieb die Wirtschaft auf Jahrzehnte hinter dem Potenzial des Landes zurück. Erst als sich Indien Mitte der 80er Jahre zu Marktreformen durchrang, besserten sich die Aussichten. Und mit der konsequenten Hinwendung zu einem offenen Welthandel und zu einer Liberalisierung des Marktes im Jahre 1991 zerbrach Indien schließlich die Fesseln einer verfehlten Wirtschaftspolitik.

Im Verlauf der 90er Jahre fand Indien dann seinen Weg als eine in den Welthandel integrierte Marktwirtschaft. Aufgrund der Armut des Landes, seiner Vielschichtigkeit und riesigen Ausdehnung (für Parlamentswahlen ist beispielshalber ein Zeitraum von einigen Wochen vorgesehen, um so eine nach mehreren Hunderten von Millionen zählende Wählerschaft zu erreichen) wurden Marktreformen nur schrittweise eingeführt; diese erwiesen sich allerdings als bemerkenswert widerstandsfähig gegen Erschütterungen. Mitte der 90er Jahre brach das alte, um Nehrus Kongreßpartei aufgebaute zentralistische Machtsystem zusammen und machte einer Reihe schwacher Mehrparteienregierungen Platz. Bemerkenswert an dieser neueren Entwicklung ist vor allem dies, dass jede neugewählte Regierung den einmal eingeschlagenen Weg in Richtung Globalisierung und Marktreformen unterstützte, und dies in einer Weise, dass nunmehr bei praktisch allen großen Parteien des Landes über die Politik grundlegender Reformen Konsens besteht.

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