Der Chávez-Weg

LONDON – Ich erinnere mich noch an den genauen Tag meines Besuchs in Venezuela. Ich nahm auf dem Dach des Hilton-Hotels in Caracas ein Sonnenbad. Ein Kellner kam auf mich zu und murmelte etwas über einen Bombenanschlag in New York. Ich eilte in mein Zimmer und sah mir immer und immer wieder die Bilder über zwei Flugzeuge an, die das World Trade Center zum Einsturz brachten.

Ich war am 11. September 2001 in Venezuela, um an einer Konferenz über den “Dritten Weg” teilzunehmen. Dies ist ein Modus Vivendi zwischen dem Kapitalismus nach amerikanischem Stil und dem Staatssozialismus, und Hugo Chávez war daran sehr interessiert – ebenso wie Tony Blair ein paar Jahre zuvor. Chávez selbst, im Kampfanzug, beehrte die Konferenz kurz mit seiner Anwesenheit und nahm von einem älteren Professor einen dicken Band mit marxistischen Texten entgegen.

Einen Tag zuvor war ich zum Mittagessen bei der venezolanischen Zentralbank und saß neben dem stellvertretenden Gouverneur, Gastón Parra Luzardo. Er meinte zu mir, alle Venezolaner glaubten, sie seien mit einem “Kuchen unter ihrem Arm” geboren worden – das heißt, mit dem Recht auf einen Anteil an den Ölreserven des Landes. Daher arbeitete niemand hart. Orlando Ochoa, ein Wirtschaftswissenschaftler, erklärte, die venezolanische Volkswirtschaft sei von Renditestreben bestimmt. Oligarchen kämpfen um die Kontrolle über die Ölerträge, Populisten geben Versprechen über ihre Verteilung ab, und beide Gruppen stehlen so viel wie möglich für sich selbst. Keiner ist daran interessiert, Wohlstand zu schaffen.

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